Manche Fragen sind nicht so einfach zu beantworten. Wäre man zum Beispiel lieber wahnsinnig oder ein Idiot? „Die Wahnsinningen stürmen drauflos und ernten Geld und Ruhm“, erklärt Onkel Liu. „Die Idioten sind vergnügt und zufrieden mit dem, was sie haben.“ Schwierige Sache, denn ein wenig Geld und vielleicht sogar ein bisschen Ruhm könnten nicht schaden, aber vergnügt und zufrieden klingt auch gut. Aber warum eigentlich nicht beides? Darauf hat der Mann, der Liu gegenüber gefesselt, nur in Unterhose und Krawatte, dasitzt, auch keine Antwort. Der Jugendfreund von Onkel Liu hat ihn mit dessen Frau betrogen und wird deshalb nun ein bisschen gefoltert. Da hilft ihm auch keine Erinnerung an den seinerzeit ins Bett gepinkelten Fleck, der aussah wie die Landkarte von Taiwan. Geschäft ist Geschäft, weiß Liu als Mafioso, der auch in Privatangelegenheiten keinen Spaß versteht.
Würde diese Szene in einem Realfilm auftauchen, könnte sie aus einem frühen Film von Quentin Tarantino stammen. Tatsächlich erinnert die Erzählung dieser chinesischen Pulp Story an die klassischen US-Vorbilder, bedient sich wie Tarantino bei diesen, an den Hard-Boiled-Geschichten und an deren charakteristischen Figuren. Und wie bei den Amerikanern ist jeder dritte Satz für ein Zitat gut, klingt wie in Stein gemeißelt. Have a Nice Day ist jedoch gemalt und ein nur knapp 80 Minuten langer Zeichentrickfilm, der diese Bezeichnung noch verdient: Drei Jahre hat der Autor und Künstler Liu Jian, Absolvent der Kunstuniversität von Nanjing, an diesem Film gearbeitet, der vor zwei Jahren im Wettbewerb der Berlinale seine internationale Premiere feierte.
Have a Nice Day ist natürlich ein ironisch gemeinter Titel. Denn einen schönen Tag erlebt in diesem Film definitiv niemand. Vielmehr geht es für fast alle Beteiligten in erster Linie darum, diesen Tag zu überstehen, an dem Xiao Zhang, ein Baustellenfahrer für Onkel Liu, diesen um eine Million Yuan, also etwa 130.000 Euro, erleichtert. Was nur deshalb gelingt, weil Lius Geldbote ein noch größerer Tölpel ist als Xiao Zhang.
Gesicht verpfuscht. Wird teuer
Xiao Zhang, ein junger Mann mit widerborstiger schwarzer Strähne über der Stirn, braucht die Beute nicht für sich, sondern für seine Freundin. Die hat nämlich eine unglücklich verlaufene Schönheitsoperation hinter sich, weshalb Xiao Zhang mit ihr nach Südkorea will. Dort können sie nämlich alles, also auch ein verpfuschtes Gesicht reparieren. Blöd nur, dass gleich mehrere Leute von der geraubten Geldtasche Wind bekommen, Onkel Liu einen Killer namens Bohnenstange, im Zivilberuf Fleischhauer, zwecks Rückerstattung auf den Weg schickt, und auch ansonsten die Lage für ein halbes Dutzend Beteiligter zunehmend unübersichtlich wird.
Have a Nice Day ist nicht der erste Animationsfilm von Liu Jian, der bereits vor einigen Jahren eine böse Satire über die Auswirkung der Finanzkrise auf den chinesischen Markt entwarf. In Piercing I ist es ein entlassener Arbeiter einer Schuhfabrik, der sich in sein Heimatdorf als Bauer zurücksehnt, dessen Traum aber an der Wirklichkeit zerschellt und in Polizeigewahrsam endet. Auch der Traum von Xiao Zhang in Have a Nice Day kollidiert, wie bei kleinen Gangstern üblich, mit jener Wirklichkeit, wie die Mächtigen sie geschaffen haben. Er ist ein Idiot, der nicht mehr zufrieden ist mit dem, was er hat, aber zum Wahnsinnigen wird er es auch nicht schaffen.
Die namenlose chinesische Metropole, nicht zufällig von Liu als mafiösem Bauunternehmer regiert, ist hier eine dunkle Sin City, in der alle versuchen, nicht überrascht, überrannt oder übervorteilt zu werden – oder eben genau das bei allen anderen versuchen. Ein solches Szenario eignet sich natürlich bestens für Systemkritik im Kino, also dort, wo Großstadtfilme schon immer die moralischen Schattenseiten des Molochs ans Licht gebracht haben. Die immer graue, dann nächtliche Stadt wird dementsprechend auch in Have a Nice Day zu einer Art Labor, die vom ersten Überfall ausgelöste Ereigniskette zu einem Sozialexperiment – mit Comicfiguren als Versuchspersonen. Dabei nutzt Liu Jian seine ästhetischen Mittel geschickt zum Zweck: die flächigen Zeichnungen im klassischen Ligne-claire-Stil sorgen für Abstraktion statt Identifikation, die Bewegungen wirken immer fahrig.
Wovon träumt der kleine Mann in China, der Baustellenfahrer, die Angestellte im Internetcafé und der Modernisierungsverlierer in der Peripherie? Natürlich vom Geld. Nicht von einer sinnvollen Arbeit oder – wie hieß das gleich? –, ach ja, Freiheit. Natürlich verwendet Liu Jian die Tasche voller Geld als MacGuffin, der nur dazu dient, die damit einhergehenden naiven Träume bloßzulegen. Einmal halluziniert sich ein Möchtegern-Gangsterpärchen, den Reichtum vermeintlich in Griffweite, in ein Shangri-La als Arbeiter-und-Bauern-Paradies, Steve-Jobs-Zitate fungieren als Anleitung zum Glück, und aus dem Autoradio macht Donald Trump Amerika noch ein Stück größer. Religion ist auch in China längst nicht mehr eine Frage des Glaubens, sondern der Auswahlmöglichkeit: „Wer hat mehr drauf, Gott, Buddha oder der Jade-Kaiser?“ In Have a Nice Day verspricht die Welt demjenigen einen schönen Tag, der sich für das lukrativste Angebot entscheidet. Dass Liu Jian seinen Figuren außer dieser Wahl gar keine andere lässt, mag man als zynisch betrachten. Doch das ist es nicht, sondern am Ende einfach nur gezeichnete Wirklichkeit.
Info
Have a Nice Day Liu Jian China 2017, 77 Minuten
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