Geschichten über Aufstieg und Untergang erzählen unausweichlich irgendwann von jenem Moment, in dem man weiß, dass alles verloren ist. Anders als in der klassischen Erfolgsstory markiert dieser Augenblick zugleich den Höhepunkt. Davor und danach herrschen unterschiedliche Formen der Verzweiflung: zunächst das verzweifelte Streben nach Erfolg, danach der verzweifelte Versuch, den Untergang zu verhindern.
In Pietro Marcellos Romanverfilmung Martin Eden gibt es ebenfalls den Moment, in dem für den Titelhelden alles zusammenbricht. Zu sehen bekommt man in diesem Augenblick ein majestätisches Segelschiff in einer kolorierten Archivaufnahme, das die gesamte Leinwand füllt. Bis man bemerkt, wie gefährlich tief das Oberdeck am Meeresspiegel kratzt, ist es auch schon versunken.
„Ich habe gerade einen 145.000 Wörter langen Roman beendet, der ein Angriff auf die Bourgeoisie und alles ist, wofür sie steht“, schrieb Jack London 1908 in einem Brief. „Ich werde mir damit keine Freunde machen.“ Der Roman wurde ein riesiger Erfolg und gilt bis heute zu Recht als eine von Londons besten Erzählungen. Nicht weil der Autor mit Martin Eden die Bourgeoisie frontal angriff. Das wäre ein allzu leichtes Unterfangen gewesen. Sondern weil er mit der tragikomischen Weltsicht seines Helden den Nerv des neuen Jahrhunderts traf.
Seit seinem Erscheinen wird Martin Eden als autobiografischer Roman rezipiert, und tatsächlich findet man eine Menge Parallelen zwischen London und seinem jungen Helden, der sich als Arbeiter und Seemann verdingt, der Hunger leidet, sich in eine Frau aus der gehobenen Gesellschaft verliebt und alles unternimmt, um ihre Liebe zu gewinnen. Und der diesen Kampf gnadenlos verliert, weil ihm das System, in dem er nach Erfolg strebt, keinen Sieg ermöglicht.
Zum Verrat gezwungen
Dass sich nun der italienische Filmemacher Pietro Marcello dieses Stoffes angenommen hat, ist kein Zufall. Marcello versteht es derzeit wie wenige andere, ein Kino der Poetik mit dem politischen Film zu verschmelzen. Auch wenn man mit filmhistorischen Referenzen sparsam umgehen sollte: Wer sich noch an Filme von Robert Bresson und Pier Paolo Pasolini erinnert, wird in den reichhaltigen Arbeiten Marcellos diesbezüglich fündig.
Marcello hat Martin Eden in das Italien der Nachkriegzeit übertragen, in den von Armut geprägten Süden des Landes. Gleichzeitig verleiht er der Geschichte eine Zeitlosigkeit, indem er Archivmaterial einstreut, das von der Stummfilmära bis in die 1980er-Jahre reicht. Öffentliches trifft auf Privates, Industrialisierung auf Handwerk, eine Menschenansammlung auf eine Familienfeier, das Rattern von Eisenbahnen auf italienische Discoschlager. Zeitlos ist auch Martin Eden, ein Mann zwischen den Welten, der einen Schlafplatz hat, aber kein Zuhause; eine Schwester, aber keine Familie; eine Liebe, aber keine Frau.
Eden ist ein großer, schlanker Mann mit großen Händen und kantigem Gesicht, gespielt von Luca Marinelli mit wuchtiger physischer Präsenz. Wenn er nicht zur See fährt, wohnt er bei seiner Schwester in Neapel und zahlt dem Schwager Untermiete. Eden hilft den Menschen, denen es noch schlechter geht: dem Arbeiter, der mit ihm Kohlen schaufelt und keinen Lohn bekommt, dem hungrigen Jungen von der Straße, und eines Tages einem Unbekannten, der am Hafen von der Obrigkeit verprügelt wird. Er begleitet ihn nach Hause, zu den reichen Orsinis, nimmt dort verunsichert, aber stolz an der Tafel Platz. Die Armut könne man mit Bildung bekämpfen wie die Sauce mit Brot, meint er und tunkt sein Gebäck in die Schüssel. Später wird er von der Tochter des Hauses, Elena (Jessica Cressy), vor einem Gemälde überrascht. „Von Weitem ist es schön“, sagt er. „Aber aus der Nähe sieht man nur Flecken.“
Genau so wird er auch die Dinge, die er da noch bewundert und begehrt, zukünftig wahrnehmen. Auch diese schöne, gebildete Frau, die für ihn alle bildungsbürgerlichen Tugenden verkörpert. Er will zu ihr, in diese andere Welt, sich neben ihr behaupten und beachtet werden. Er beginnt zu schreiben, entdeckt die Theorien Herbert Spencers für sich, erklärt sich zum Sozialdarwinisten, überwirft sich mit den Sozialisten, wird fälschlicherweise für einen solchen gehalten, schreibt der Angebeteten Briefe aus der Ferne. Was der fanatische Autodidakt nicht weiß: Sein Drama hat in dem Augenblick begonnen, als er die Arbeiterklasse verlässt. Wer wie Eden diese überwindet, behauptet dieser Film, ist zum Verrat an ihr gezwungen.
Doch das wäre nicht mehr als ein trauriger Film über einen Menschen, der nicht weiß, wo er hingehört. Eine sozialromantische Moritat, die Tugend und proletarische Ehrlichkeit preist. Weshalb Marcello, ganz im Sinne der Vorlage, seinen Titelhelden an jener Eigenschaft zweifeln lässt, auf die er am meisten stolz ist: an seinem Individualismus, den er nicht aufzugeben bereit ist. „Als Individualist war er nicht in der Lage, die Bedürfnisse anderer und die Not der gesamten Menschheit auch nur wahrzunehmen“, charakterisierte bereits Jack London seine zum Untergang bestimmte Figur. Als sich schließlich doch der literarische Erfolg einstellt, die gesellschaftliche Akzeptanz mit Reichtum einhergeht und schließlich Elena um seine Liebe bittet, ist es für Martin Eden zu spät. Er ist ein Wrack, und das Schiff des ehemaligen Seemanns ist gesunken.
Info
Martin Eden Pietro Marcello Italien 2019, 129 Minuten
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