Coronamüdigkeit

Was die Politik tun kann ... wenn die Motivation schwindet

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Neben dem öffentlichen Drama um verfügbare oder besser: nicht verfügbare Impfstoffe zerbrechen sich Politiker:innen derzeit wohl vor allem darüber den Kopf, Bürger dazu zu motivieren, sich an Regeln zu halten, deren Relevanz für die meisten von ihnen im Alltag eine untergeordnete Rolle spielen. Sicherlich kennt der ein oder andere einen Mitmenschen, der infiziert war, was sich jedoch in Regel als nicht dramatischer als eine Grippe herausstellte. Manche Bürger:innen kennen schwierige Verläufe oder haben Tote zu beklagen. Da jedoch die Wahrscheinlichkeit an Corona zu sterben in Deutschland nüchtern betrachtet nach wie vor - bezogen auf 83 Millionen Bundesbürger:innen - bei etwa 0,07% liegt, ist auch die Wahrscheinlichkeit einen Toten zu kennen nicht besonders hoch. Zu Beginn der Krise wurde diese mangelnde persönliche Relevanz für die Mehrzahl der Menschen mit Hilfe einer künstlich befeuerten Solidarität aufgewogen: Es geht nicht um dich, sondern um Menschen, für die das Virus wesentlich gefährlicher ist. Nach den Sommermonaten ließen sich bereits tiefe Risse in dem Solidaritäts-Narrativ erkennen. Das vage Gemeinschaftsgefühl wurde durch ein ritualisiertes Mitmachen ersetzt. Wer im Sommer auf größeren Bahnhöfen verweilte, durfte sich ein interessantes Schauspiel zu Gemüte führen. Sobald sich die Zugtüren öffneten, wurde von den meisten Fahrgästen flugs die Maske vom Gesicht gezogen, obwohl in diesem Moment die Wahrscheinlichkeit, sich nahe zu kommen am größten war. Dieses Ritual folgte keiner Logik, sondern lediglich der Verordnung, im Zug Masken zu tragen. Es wurde mitgemacht, aus Angst vor Strafen, sozialer Ächtung oder um nicht nachdenken zu müssen.

Auch die zweite große Säule der Motivation stellte sich relativ schnell als Kartenhaus heraus: Die Gefahr im Falle eines Unfalls oder einer eigenen schweren Krankheit kein Intensivbett mehr zu bekommen. Es gab in Deutschland nicht einen Tag, an dem die Kapazitäten wirklich in Frage standen. Das Kartenhaus ist offensichtlich sehr stabil. Und sofern nichts wirklich Dramatisches passiert, wird es auch weiterhin standhalten. Was soll es schon einreißen? Eine erneute Mutation des Virus? Von Mutationen war schon im letzten Jahr die Rede. Doch auch diese Hiobsbotschaften nutzten sich ab. Und offensichtlich sind die Verläufe mit einer Mutation nicht gefährlicher. Lediglich die Verbreitung wird schneller, was für die meisten Menschen wiederum kein großes persönliches Problem darstellt.

Letztlich hatte das Virus von Anfang an für die wenigsten Menschen eine hoch bedrohliche Bedeutung für ihr Leben oder das ihrer Liebsten. Damit kündigte sich bereits der Weg vom Gemeinschaftsdenken zur individuellen Fürsorge an.

In unserer individualistisch geprägten Welt gibt es offensichtlich nur wenige gemeinsame Geschichten, die uns wirklich miteinander verbinden. Was in Fernost funktioniert, fällt in Europa auf kaum fruchtbaren Boden. Die Krise verdeutlicht uns, wie wenig wir gemeinsam haben. Entsprechend gering ist das Verständnis füreinander. Wer schon seit Jahren im Homeoffice sitzt, am besten ohne Kinder und mit Blick ins Grüne, spürt kaum etwas von der Krise. Eine Alleinerziehende, am Ende noch systemrelevant an der Aldi-Kasse sitzend und zu Hause in einer 40-Quadratmeter-Wohnung ohne Garten wohnend hat allerhand Recht darauf, sich Sorgen um die schulischen Leistungen des Nachwuchs zu machen. Und wer sich bislang als Freiberufler mit einem gewissen Stolz selbst um seine Altersvorsorge kümmerte, die nun dahinschmelzt wie das Eis in der Antarktis kam aus der Fassungslosigkeit nicht mehr heraus im Angesicht der Kurzarbeit angestellter Freunde bei 90% Lohnausgleich. Die einschneidenden Folgen der Maßnahmen konnten eine zeitlang durch Solidarität und Ritualisierung übertüncht werden. Zu Beginn von 2021 scheint dies vorbei zu sein. Die Müdigkeit geht um und zwar nicht nur die digitale Müdigkeit, sondern eine richtiggehend depressive Stimmung, aufgrund derer vielen Menschen das Befolgen von Regeln mittlerweile mehr oder weniger egal ist. Sie haben gerade noch die Kraft, in Umfragen kund zu tun, dass sie die Regeln im Grunde ganz gut finden. Am Wochenende gehen sie dann doch zum Rodeln. Was soll's? Mit Maske, Abstand und im Freien ist das individuelle Risiko wohl abschätzbar.

Die Solidarität und das ritualisierte Handeln wurden durch eigene Risikoabwägungen ersetzt. Der Mensch muss sehen, wofür er etwas opfert. Nun zeigt sich, wie schnell sich die dramatischen Bilder über die digitale Ferne abnutzen. Wie schnell wir innerlich abstumpfen. Während die wenigsten von uns wirklich schwere Verläufe oder Todesfälle in unserem Umfeld kennen, erscheinen uns die medial präsentierten Zahlen und Einzelschicksale wie ein surreales Echo unseres eigenen Lebens in der Warteschleife. Die Dauererregung durch das mediale Dauerfeuer seit Bergamo wich einer zynisch-nüchternen Betrachtung im Angesicht der eigenen Verluste. Zynismus lautet in seiner Ursprungsübersetzung "Ich leide wie ein Hund und mache mich gerade deshalb über die Situation lustig, weil ich es anders nicht ertrage". Während die Todesfälle weit weg sind, sind Insolvenzen, Kündigungen, verschobene Operationen, alleingelassene Heimbewohner:innen und das Chaos im Homescooling täglich erlebbar. Der Mensch ist nunmal kein digitales Wesen, sondern lebt körperlich und macht sich Sorgen im Hier und Jetzt.

Das soziale Drama vor dessen Hintergrund sich Corona abspielt zeigt uns, dass es in unserer Gesellschaft mehr Trenn- als Verbindungslinien gibt, die bisher kaum eine Rolle spielten, nun jedoch umso deutlicher zum Tragen kommen:

- Systemrelevanz vs. Systemirrelevanz

- Selbstständigkeit vs. Angestelltendasein

- Arm vs. reich

- Ganzheitliche vs. technische Einstellung zu Gesundheit

- Elternschaft vs. Kinderlosigkeit

- Städtisch vs. ländlich lebend

Wenn uns mehr trennt als verbindet, was also könnte uns Menschen motivieren, wieder zueinander zu finden?

Der politische Fokus liegt immer noch weitgehend auf allem, was mit Corona zu tun hat. Dabei geraten diejenigen aus dem Blick, die ebenso leiden. Der Tod lässt sich freilich nicht mit Insolvenzen, Depressionen oder verpassten Ausbildungen vergleichen. Dennoch gibt es auch hier ein Leiden. Es muss auch gar nicht verglichen werden. Es würde vollkommen ausreichen, sowohl das Corona-Leiden als auch das Maßnahmen-Leiden parallel zu sehen und dessen Existenz anzuerkennen. Die verzweifelte Bereitstellung von Geldern erscheint beinahe wie ein Ersatz dafür, auf das vorhandene Leiden eingehen zu müssen. Während zu Beginn der Pandemie Berichte über das Maßnahmen-Leiden als Ausdruck galten, das Virus nicht ernst zu nehmen, lässt sich nun beispielsweise in der Süddeutschen lesen, dass sich auch Menschen, die keine Querdenker oder Leugner sind, nicht mehr stringent an Maßnahmen halten. Anstatt weiterhin echte von falschen Opfern zu unterscheiden und damit dem Zynismus und der Abgestumpftheit Vorschub zu leisten, wäre dies der ideale Zeitpunkt für die Politik, den Blick zu weiten und auch an den Maßnahmen Leidende anzuerkennen. Aus mediativer Sicht kann der gemeinsame optimistische Blick in die Zukunft nur gelingen, wenn zuerst eine Heilung stattfand. Dazu jedoch müsste die Politik ihre Kommunikationsstrategie verändern.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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