Haben wir eine Spaltung der Gesellschaft?

Biographische Sichtweisen Unsere Erfahrungen prägen unseren Blick auf die Krise

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Ist unsere Gesellschaft wirklich gespalten? Ich glaube nicht. Die Reaktionen der Menschen in der Krise und insbesondere die soziale Distanz - interessanterweise liest man schon seit einiger Zeit nichts mehr vom sogenannten "social distancing" - führen allerdings dazu, dass wir unsere Sichtweisen auf die aktuelle Situation nur unzureichend geduldig und wertschätzend miteinander abgleichen können. Wer sich mit Menschen anderer Meinung in einem Prozess des gegenseitigen Austauschs ohne soziale Distanz unterhält, merkt meistens schnell, dass viele Meinungen weit weniger auseinander gehen als uns der Austausch über die soziale Ferne der digitalen Medien suggeriert. Für eine Annäherung bleibt im Virutellen selten Zeit. Es ist mühsam, sich zu erklären, gerade wenn es wie bei Corona und den Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus um ein sehr komplexes Thema handelt, zu dem wohl jede:r eine individuelle Sicht entwickelte. Eichhörnchenbilder gehen immer. Aber Corona?

Dies liegt an unserem Blick auf ein Medium, das durch Nullen und Einsen geprägt ist. Entweder ist der Schalter an oder aus. Im Digitalen ist alles auf Effektivität und Effizienz getrimmt. Für lange Diskussionen bleibt keine Zeit. Der Motor digitaler Netzwerke sind knallige Statements mit einem hohen Aufmerksamkeitswert und die Ungeduld beim Lesen. Dabei vergessen wir leider, dass diese Statements lediglich ein Ausschnitt aus einem umfassenden individuellen Kontext sind, geboren aus Erfahrungen, Erwartungen und Enttäuschungen.

Je nachdem, wie wir leben, blicken wir anders auf die Situation und bewerten entsprechend die Äußerungen anderer Menschen als nachvollziehbar oder unverständlich:

"Wenn die Kanzlerin sagt, die Kinder sollen eben ein paar Kniebeugen machen und in die Hände klatschen, wenn es ihnen zu kalt, kann ich nur noch lachen. Meine Tochter war letzte Woche aufgrund einer Blasenentzündung zuhause. Sie sitzt den ganzen Tag über am eisig kalten Fenster." (Mutter von einer 18-jährigen Tochter im Abschlussjahr)

"Ich weiß nicht, was die alle haben. Das bißchen Maske tragen kann doch wohl jeder mitmachen." (45-jähriger Programmierer, der bereits seit Jahren im Homeoffice arbeitet und für den sich kaum etwas veränderte)

"Eigentlich eine feine Sache, die Krise." (60-jährige Businesstrainerin, die seit der Krise nur noch Online-Trainings anbietet und sich darüber freut, nicht mehr so viel reisen zu müssen)

"Ich weiß einfach nicht mehr, was ich wählen soll." (55-jähriger Hotelbesitzer, der soeben aus der CSU ausgetreten ist)

"Die Politik hat uns vergessen!" (52-jähriger Musiker, der Ausgleichszahlungen beantragte und nun eine Anklage wegen Betrugs an der Backe hat)

"Die Maßnahmen sind unzumutbar!" (50-jährige Pädagogin in einem Kinderheim, die täglich beobachtet, wie behinderte Kinder in ihre Tages-Maske schneuzen)

"Die Maßnahmen sind tödlich!" (48-jähriger Sohn eines Vaters mit Herzproblemen, dessen OP in der Krise verschoben wurde)

"Die Maßnahmen gehen nicht weit genug!" (43-jährige Mutter einer Tochter mit Asthma)

"Wir leben in einer Diktatur!" (60-jähriger Ex-DDR-Bürger, der sich von der Einseitigkeit der Berichterstattung getriggert fühlt)

Jede dieser Sichtweisen offenbart uns lediglich einen Ausschnitt aus einem umfassenden Kontext. Sie liefern uns Blitzlichter, die in den digitalen Medien zu Irrlichtern werden. Tausendfach geklickt für tausendfache Empörungsreaktionen. Dabei steht hinter jeder Sichtweise ein Mensch mit einer Biographie. Für jede Sichtweise gibt es Hintergründe, eine Entstehungsgeschichte und Erklärungen. Diese mögen nicht immer rational nachvollziehbar sein. Wir können dennoch versuchen, sie zu verstehen. Verstehen jedoch bedeutet nicht Verständnis dafür haben zu müssen. Ich kann aus meiner Biographie heraus zu anderen Schlüssen kommen als mein Gegenüber. Es hindert mich jedoch nichts daran, aus den Augen meines Gegenübers auf die Situation zu blicken, ohne ihm gleich recht geben zu müssen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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