Menschenbild und Sprache der Politik

Appell an die Vernunft? Vertrauensverlust statt Verantwortung

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Kann es funktionieren, wenn Politiker in der Krise an die Verantwortung der Bürger:innen appellieren? Wenn sie suggerieren, dass sie Vertrauen in die Vernunft der Menschen haben? Vertrauen in die Aufklärung und Logik? Immer diese schwer wiegenden V-Wörter: Verantwortung, Vertrauen, Vernunft.

Wer die letzten Monate Revue passieren lässt, ist mit einem Wirrwarr aus Drohungen, Ankündigungen, eventuellen, wahrgemachten und weiteren Verschärfungen von Maßnahmen konfrontiert, die als Spielfilm zusammengeschnitten aufgrund ihrer Sprunghaftigkeit Kopfschmerzen bereiten, jedoch nicht einmal im Nachhinein einen Sinn zu ergeben scheinen. In einer ohnehin entleerten Stadt nach 21 Uhr spazieren gehen? Verboten. Sich zuhause mit fünf Personen eines Haushaltes treffen? Erlaubt. Sich mit zehn Personen, die sich vermutlich bereits gegenseitig infiziert haben, aus dem gleichen Hausstand treffen? Verboten. Sich im Bus in der Rush-Hour körperlich aneinander reiben? Erlaubt. In Flugzeugen nebeneinander sitzen? Erlaubt. Kinos, Theater, Hotels, Gaststätten oder Fitnessstudios müssen stattdessen trotz erarbeiteter Best-Practice-Konzepte schließen.

Das Spiel war stets dasselbe:

1. Akt: Zuckerbrot in Aussicht: Wenn ihr euch benehmt, bekommt ihr eine Belohnung. Im Frühjahr hieß es, der Lockdown wird bald wieder gelockert. Noch vor kurzem lautete die Devise: Wenn ihr artig seid, dürft ihr Weihnachten mit der Familie feiern. Vielleicht sogar an Sylvester mit Freunden ein paar Rakten in den Himmel schießen.

2. Akt: Streufeuer: Die Infektionszahlen steigen. Dies war Ende April so. Mitte Dezember dasselbe Spiel. Und vermutlich wird es bis mindestens Februar wenig besser aussehen. Wir erinnern uns: Wir sind mitten im Winter. Ein Schnupfenwetter, das sicherlich auch für fremdländische Viren in Bus und Bahn ein guter Nährboden ist. Dabei hat die kalte Jahreszeit gerade erst angefangen. Das jedoch traut sich kaum jemand zu sagen. Am Ende wäre das Zuckerbrot zu weit entfernt, um weiter zu motivieren. Kein Wunder, dass jenseits der großen Ankündigungen stets ein paar Streufeuer gezündet werden: Der Lockdown könnte bis März gehen. Sylvester wird wahrscheinlich doch ausfallen. Die Wohnung ist verletztlich. Oder auch nicht. Nur wer geimpft ist, darf in Zukunft Reisen oder Veranstaltungen besuchen, inklusive anschließendem Dementi der Regierung. Interessant dabei ist der Reiz besonders empörungswirksamer Nachrichten für die Medien. Je abstruser die Äußerung eines Streufeuers, umso mehr Aufmerksamkeit, umso besser.

3. Akt: Enttäuschung und Peitsche: "Die Vernünftigen müssen vor den Unvernünftigen geschützt werden", sagt Markus Söder, der Generaleinpeitscher der Bundesregierung. Dabei schwingt stets die Enttäuschung über die Unfähigkeit der Bürger:innen mit. Eine Ent-Täuschung entsteht jedoch auf der Basis einer falschen Erwartung an die Menschen. Hatten unsere Politiker tatsächlich etwas anderes von ihren Bürger:innen angenommen? Oder gingen sie nicht implizit davon aus, wenn wir an den 1. Akt denken, dass man die Menschen ohnehin mit Zuckerbrot locken muss, damit sie motiviert sind, die auferlegten Bürden mitzutragen?

Wie also steht es um das Menschenbild unserer Politiker?

Unser Menschenbild (siehe auch: www.m-huebler.de/tag/menschenbild) lässt sich in seiner simpelsten Form auf die Frage nach dem Vertrauen in den Menschen reduzieren: Vertrauen wir darauf, dass der Mensch von Grund auf gut ist? Oder gehen wir davon aus, dass er stets darauf bedacht ist, bewusst oder unbewusst egoistische Zwecke zu verfolgen? Wenn davon die Rede ist, dass Schlupflöcher gestopft werden sollen, ist recht eindeutig, welches Menschenbild dahinter steht. Dann jedoch von Verantwortung, Vertrauen und Vernunft zu sprechen erscheint zynisch. Diejenigen, die die Maßnahmen ohnehin mittragen, brauchen solche Ansagen nicht mehr. Genauso wenig brauchen sie eine Youtube-Kampagne, die ihnen suggeriert, dass sie Chips und Pizza essend und Einweg-Cola-Dosen schlürfend zuhause im Gammelmodus die Welt retten. Wer dabei ist, war es schon vor Monaten. Die seit Beginn der Krise durchgehend etwa 30% kritischen Bürger:innen werden mit Zuckerbrot und Peitsche-Ansprachen nicht erreicht, insbesondere wenn sie wie Theater, Kinos, Hotels, Gaststätten und Fitnessstudios alles dafür getan haben, den Maßnahmen gerecht zu werden. Verantwortung, Vertrauen und Vernunft? Stattdessen scheinen die Begriffe Verfahren (auch aufgrund seiner juristischen und bildhaften Doppelbedeutung), Vertrauensverlust und zum Verzweifeln angebrachter zu sein.

Müssen nun die Vernünftigen wegen den Unvernünftigen leiden wie es in vielen Foren auf digitalen Medien regelmäßig zu lesen ist? Eine solche Suggestion würde die Spaltung der Gesellschaft noch weiter voran treiben und kann langfristig nicht im Sinne der Politik sein. Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Politiker keine Sprache fanden, die vermeintlich Unvernünftigen zu erreichen? Ab und an ist zu lesen, dass man mit Unvernünftigen nicht sprechen kann? Was jedoch ist unvernünftig und was kritisch? Wen meint Markus Söder, wenn er sagt, man sollte auch geistigen Abstand zu unvernünftigen Menschen halten? Meint er Bürger wie Friedrich Pürner, Chef des Gesundheitsamts in Aichach-Friedberg, der nach einer Kritik an der Corona-Politik nach eigenen Angaben strafversetzt wurde? Geistigen Abstand zu einer 30%-igen Mischung aus kritischen und unvernünftigen Bürger:innen? Wäre es nicht ein Armutszeugnis für die Politik, beinahe ein Drittel der Menschen in diesem Land abzuschreiben oder am Ende aus Enttäuschung an die AfD zu verlieren? Wer diejenigen ansprechen möchte, die eine kritische Meinung zur Regierungspolitik vertreten, sollte eine andere Sprache finden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Hübler

Coach, Mediator, Organisationsentwickler, Autor

Michael Hübler

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