Spaß muss sein auf der Beerdigung!

Die SPD schafft sich ab Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan...Eine real-satirische Untersuchung.

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Will man den Niedergang der ehemaligen Volkspartei SPD verstehen, ist es dienlich, zurück zu blicken auf das heillose Stehgreiftheater in fünf Akten, dass ein Heldenepos hätte werden können, von den Mimen aber als Tragikomödie dargeboten wird. Wir befinden uns zur Zeit am Ende des vierten Aktes.

Der Erste Akt dieses Narrenstückes beginnt anno 2016, als Sigmar „Siggi Pop“ Gabriel dämmert, dass er das seiner Tochter gegebene Versprechen, nur noch bis 2017 „zu der Frau Merkel“ zu müssen, wohl nicht halten wird. Magere 22 % Zustimmung stehen zu Buche, Rechte und Original-Liberale reüssieren.

Was tun? Sich als Kanzlerkandidat mit einer Bauchlandung die bisher erfolgreiche eigene Bilanz ruinieren?

Seine Niederlage als Kandidat der Niedersachsenwahl 2003 qualifizierte ihn immerhin zum Pop-Beauftragten seiner Partei. Prompt löste sich Modern Talking auf. War doch ein erfolgreicher Schritt zurück damals. Aber heute...?

Was soll's, first things first: Als Vorsitzender dieser staatstragenden Partei greift er beherzt nach dem freien Außenamt. Die Auftritte in der Tagesschau sind so schon einmal – vermutlich auch in der nächsten Legislaturperiode - gesichert.

Aber müsste er dann nicht doch auch kandidieren? Gut, vielleicht könnte er ja anschließend Politik-Beauftragter im VW-Vorstand werden. Aber was wird dann seine Tochter sagen? Wird sie den Vorstandsvorsitzenden Müller mögen?

Was tun in der leidigen Kandidatenfrage?

Scheitern ist nicht schön. Könnte das nicht ein anderer übernehmen? Dieser Martin Schulz verliert doch bald seinen Job in Europa und tummelt sich gerade ohnehin Kontakte knüpfend in der Republik. Gedacht – gefragt.

Schulz will. Aber nur, wenn er auch den Vorsitz bekommt. Allzu gut sind ihm Gabriels Querschüsse während der Steinbrück-Kampange in Erinnerung. Erst bei einem weiteren Treffen, in dem Schulz zusagt, im Falle seiner Kanzlerschaft Gabriel das Außenamt zu belassen, verzichtet dieser auch auf den Vorsitz und lässt sich fortan für seinen grenzenlosen Altruismus feiern.

Nun wird Martin Schulz im Januar 2017 zum Kanzlerkandidaten nominiert und als Vorsitzender designiert. Er spricht von Gerechtigkeit und von einer Reform des Arbeitslosengeldes. Unglaubliches geschieht: Tausende treten spontan der Partei bei.

Die Wahlprognose steigt innerhalb einer Woche rasant von 21% auf 31%. Eine Kanzlerschaft scheint nicht mehr gänzlich ausgeschlossen. Ende des Ersten Aktes.

Im Zweiten Akt sehen wir, sich auf roten Teppichen sonnend, den Deutschen Außenminister. Vom Kanzlerkandidaten sehen wir – nichts. Es sei denn, wir gesellen uns zu denen, die Schule, Studium oder Arbeit schwänzen, um dem Hoffnungsträger auf öffentlichen Plätzen begeistert zu lauschen.

Zeitgleich wird von Experten nämlich eine Kampangne inszeniert, die sich vor allem durch die Medienabstinenz des Kandidaten auszeichnet. Ein fulminanter Wahlkampf von Haus zu Haus, der die Herzen erwärmt, aber kaum neue Stimmen bringt. Zweifellos eine exzeptionell kreative Idee in Zeiten der fortschreitenden Medialisierung des politischen Geschäfts.

Leider darf der Kandidat ohne Mandat auch auf der großen Bühne Bundestag nicht auftreten, so muss sich Sigmar Gabriel einmal mehr opfern. „Was macht eigentlich Martin Schulz?“ und „Lange nichts gehört vom furios gestarteten SPD-Kanzlerkandidaten.“, mokiert sich die Presse und auch der Wähler wundert sich.

Verwunderlich auch, dass Martin Schulz dem Rat folgt, das Wahlprogramm nicht selbst als sein Wahlprogramm zu verkünden, sondern den führenden Köpfen der Programmkommission diesen - endlich einmal medienwirksamen - Termin zu überlassen.

Während halb Deutschland schläft, hat der Kandidat dann nächtens seinen großen Auftritt in den Tagesthemen und darf zuerst die Frage beantworten, weshalb denn nicht er... Schulz gibt den Teamplayer, aber die geneigte Wähler und der geneigte Wähler gewinnen den Eindruck, die SPD wolle ihren Kandidaten verstecken. Folgerichtig bröckeln die Zustimmungswerte.

So richtig ernst wird es allerdings erst nach dem Parteitag. Schröder tritt auf und alle Hoffnungen auf tatsächliche „Erneuerung“ mit Füßen. In einer rückwärts gewandten, von Eigenlob triefenden Rede raubt er auch den optimistischsten Optimisten den Rest von Zuversicht auf eine von sozialdemokratischen Idealen geprägte Zukunft.

Beiseite: Immerhin verkneift Schröder es sich, wieder einmal voll Stolz zu berichteten: „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ Auf die Darbietung seinen Hits: „Gesundheit hat seinen Preis!“, verzichtet er dann aber doch zugunsten einer Mahnung an die Gewerkschaften, nicht unverschämte Forderungen zu stellen.

Auch der Herr Gabriel bleibt nicht untätig. BILD legt ihm ein Foto seiner Tochter und eines von Martin Schulz vor und fragt, wen er am liebsten wählen würde. Mit der Instinktsicherheit, die ihn seit jeher auszeichnet, antwortet er: „Marie!“. Noch andere Möglichkeiten bieten sich, den eigenen Mann herab zu würdigen. Gefragt, wen er denn am liebsten als Bundeskanzler sähe, antwortet er ohne mit der Wimper zu zucken: „Steinmeier!“. Ist das zu glauben? Wohl eher nicht. Völlig verblendet von der eigenen blasierten Wichtigtuerei lässt er in dieser Zeit auch sonst keine Gelegenheit aus, sich mit seltsamen Thesen auf Kosten des Kandidaten ins Rampenlicht zu drängeln.

Peer „Stinkefinger“ Steinbrück will sich da ebenfalls nicht lumpen lassen. Schließlich muss er ja promoten, um Tickets für seine Comedy-Tournee „Schröder – Steinbrück“ zu verkaufen. Gern gibt er schon mal gratis eine Kostprobe seines goldigen Humors. Er lässt verlauten: bei der 100%-Wahl hätte sich in der SPD „ein Realitätsverlust eingestellt und das Publikum hat sich gewundert: Steht da jetzt Erich Schulz-Honecker?"

Das „Publikum“? So ist es nun mal: Man selbst steht auf der Bühne da oben, stellt einen Politiker dar und spricht Texte, auf die die da unten bitteschön mit Applaus zu reagieren haben. Falls die da unten es nicht tun, zeugt dies von mangelndem Geschmack. Des Publikums, wohlgemerkt.

Als hätte er es noch nicht schwer genug, berauben die den Kandidaten einhegenden „Experten“ - wie der ihm von Gabriel aufgedrängte Matthias Machnig - dem Kandidaten dann auch noch seines Alleinstellungsmerkmals in diesem Wahlkampf - jegliche Authentizität wird ihm ausgetrieben. Freudig begrüßt wurde ein kraftvoller, wie ein Sozialdemokrat bemützter, sich gerierender und äußernder Kanzlerkandidat. Aber die foltergleiche, tägliche Litanei seiner „Aufsichtsräte“ ist wahrlich dazu angetan, auch dem verstocktesten Sozi die Flausen auszutreiben: „Willst Du das wirklich so sagen?“, „Ich würde das dann aber ganz anders sagen.“, „Wollen wir das nicht lieber gar nicht sagen?“ „Um Gottes Willen, „Agenda“ solltest Du überhaupt nie sagen!!!

Als sei er von einer fortschreitenden Krankheit befallen, verschwinden Unverbrauchtheit und Unbefangenheit der ersten Tage. Der gute Mann degeneriert unter Anleitung der ihn umgebenden Berater in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem unsicher wirkenden, zeitweise verdrucksten Zauderer, dem man das durchaus mutige: „Ich will Kanzler werden!“, nicht mehr abnimmt.

Stattdessen setzt sich bei den Wählerinnen und Wählern die Erkenntnis durch, dass Martin Schulz Absichten zwar zweifelsfrei honorig sind, er sich aber gegenüber dem Partei-Establishment nicht durchsetzen kann, das sich allen Ernstes mit den Leistungen der letzten GroKo brüstet.

Dankbarkeit zu erwarten für die Durchsetzung eines beschämend niedrigen Mindestlohns, der kaum zum Leben und - wie nicht nur Olaf Scholz sehr wohl weiß - keinesfalls zur auskömmlichen Rente genügt, also lediglich die Armut stabilisiert, das touchiert die Grenze zum Hohn. Zu glauben, man hätte vergessen, dass dieser Mindestlohn erst durch eine Politik notwendig wurde, die unter einem SPD-Kanzler Schröder beschlossen und weiterhin vertreten wird, ist an Borniertheit kaum zu übertreffen.

Es scheint, als haben die Granden der SPD jeglichen Bezug zum Leben der Millionen Menschen verloren, die nun wirklich auf eine sozial gerechte Politik angewiesen sind. Stattdessen antichambriert man zwar ausdauernd, aber ohne Aussicht auf Erfolg vor der Tür der „Neuen Mitte“. Es ist die falsche Tür. Es ist die Tür einer Chimäre, die sich bei Wahlen rückstandslos verflüchtigt.

"Die Schutzmacht der kleinen Leute" zu sein, entpuppt sich einmal mehr als inhaltsleeres, unglaubwürdiges Lippenbekenntnis. Und wird als solches auch erkannt von denen, auf deren Stimmen die SPD dank Martin Schulz hatte hoffen dürfen.

Der Dritte Akt. Deutschland hat gewählt. Die letzten Umfragen sahen die CDU bei bis zu 36%, für die SPD wurden bestenfalls noch 22% Zustimmung erwartet.

Schon am Nachmittag des Wahlsonntags, noch vor der ersten Prognose, trifft sich die Elite der Partei im Willi-Brandt-Haus und beschließt konkordant, sich für die Opposition zu entscheiden. Die erste Hochrechnung um 18.16 h bestätigt diese realistische Einschätzung: Die Große Koalition wurde abgestraft und mit eindeutigen Ergebnis abgewählt.

Ein Minus von 8,5% schlägt der CDU/CSU ins Kontor und die SPD verschlankt sich auf 20,5%. Dieser Ausgang übertrifft sogar die schlimmsten Befürchtungen. Verglichen mit den 21% vor seiner Nominierung im Januar 2016 hat der Kandidat also atemberaubende 0,5 Prozentpunkte verloren. Ein Desaster: Nun hat Martin Schulz „das schlechteste Nachkriegsergebnis der 154 Jahre alten und einst sehr stolzen Partei zu verantworten.“ Schon um 18.31 h betritt der Versager die kleine Bühne unter dem überlebensgroßen Willy Brandt und verkündet den gemeinsamen Beschluss, die Koalition nicht fortzusetzen. Die SPD müsse sich in der Opposition regenerieren und: „Ich empfinde es als meine Aufgabe, das als Vorsitzender zu gestalten“.

Der sonst so um Stil und Niveau bemühte Klaus von Dohnanyi reagiert besserwisserisch und wird persönlich: „Die SPD muss erkennen, dass sie mit einem Mann wie Martin Schulz nicht in der Lage ist, den Aufbruch zu organisieren!“, zetert von Dohnanyi. „Er sollte zurücktreten und den Weg freimachen!“. Er hätte diesmal wegen Schulz die SPD nicht gewählt. Dem Herrn beliebt es also nach Personen statt nach Programmen zu wählen. Ein Griff in die tiefliegende Schublade mit der Aufschrift: „kleinstes mit bloßem Auge sichtbares Karo“.


Andere springen ihrem Vorsitzenden bei. Thomas Oppermann weiß: "Der Platz der SPD ist bei diesem Ergebnis in der Opposition.“ Und Andrea Nahles verkündet apodiktisch: "Die SPD ist in die Opposition geschickt worden. Punkt!".

Theoretisch ist die Union auch nicht auf die Sozialdemokraten angewiesen, möglich wäre auch eine "Jamaika"-Koalition aus Union, B90/Grünen und FDP. Schon in der „Elefantenrunde“ wird klar, dass diese Parteien die Mé­nage-à-trois wagen wollen. Martin Schulz bekräftigt die Absage seiner Partei und zeigt sich überzeugt, dass man sich auf „Jamaika“ einigen wird.

Ein Irrtum, wie sich bald herausstellt. Nun richten sich alle Augen wieder auf die SPD. Wird sie einlenken und umfallen? Nein, der SPD-Vorstand bleibt standhaft und determiniert: „Eine Neuauflage der großen Koalition bleibt ausgeschlossen.“

Im Vertrauen auf diesen einstimmigen Beschluss, wiederholt der Frontmann: "Wir scheuen Neuwahlen unverändert nicht. Wir stehen angesichts des Wahlergebnisses vom 24. September für den Eintritt in eine Große Koalition nicht zur Verfügung." Auch Olaf Scholz legt sich überraschend fest. Er bekräftigt, für eine Große Koalition stünde die SPD weiterhin nicht bereit. Natürlich schließt auch Andrea Nahles eine Neuauflage der Koalition kategorisch aus: "ob mit Merkel an der Spitze oder nicht".

Ferner laufen O-Töne anderer prominenter Genossen: Eine GroKo "würde den Volksparteien weiter schaden und den extremen Rändern weiter Zulauf bescheren", befürchtet wohl nicht zu Unrecht der Vorsitzende der SPD in Sachsen-Anhalt, Burkhard Lischka. "Die SPD ist nicht das Ersatzrad am schlingernden Wagen von Frau Merkel." stellt Partei-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel klar. Ralf Stegner erkennt: "Die Ausgangslage für die SPD hat sich nicht verändert. Wir haben kein Mandat für eine erneute Große Koalition." Messerscharf folgert Kurt Beck: "Sondierungsgespräche sind also sinnlos."

Die Zustimmung reagiert mit einem Schritt nach oben: 23%.

Nun betritt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gewichtig die Szene, lädt die Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD zum Einzelgespräch ins Schloss Bellevue und verkündet mit der Macht seines Amtes: "Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft."

Gesprächsbereitschaft „von allen?“ Wäre es da nicht naheliegender gewesen, zunächst die kurz vor dem Abschluss zerstrittenen Jamaikaner einzuladen? Man war sich doch schon über Vieles einig. Wäre es nicht angebrachter gewesen, zunächst dem Herrn Lindner ins Gewissen zu reden und an die staatspolitische Pflicht seiner Partei zu erinnern? Anscheinend oder sogar offensichtlich mangelte es dem Staatsoberhaupt an „Gesprächsbereitschaft“ mit „allen“.

"Wenn der Bundespräsident mich zu einem Gespräch auffordert, dann werdet ihr ja verstehen, dass ich einen Gesprächswunsch nicht abschlagen kann." verteidigt Martin Schulz den Termin bei den Jusos auf ihrem Bundeskongress. Und dann ist da ja auch noch das Plazet des übrigen Vorstands: "Wir waren uns einig, dass ich dieser Einladung selbstverständlich folgen werde."

Nach diesem Treffen dreht sich der Wind, „Opposition“ wird zum Unwort. Flugs wird das eigene Fähnchen justiert: „Wir sehen im Moment keine Basis für eine Große Koalition.“ relativiert schon mal Thorsten Schäfer-Gümbel. „Alle Parteien müssen sich nun neu sortieren und überlegen, wie es weitergeht“, fordert Johannes Kahrs. Gewohnt vorsichtig, für jede Entwicklung offen, deutet „Aufsichtsrat“ Hubertus Heil einen Umschwung an. Nun werde „das weitere Vorgehen in den Gremien“ beraten. „Neuwahlen sind nicht der richtige Weg!“, weiß der Netzwerker Martin Rabanus, der sich vielleicht doch Sondierungsgespräche vorstellen könnte. „Ich finde im Grundgesetz keinen Artikel, der Neuwahlen vorschreibt, wenn der FDP-Vorsitzende Sondierungsgespräche abbricht.“, verklausuliert Achim Post möglichen Wankelmut. „Die SPD darf sich keinen Gesprächen über die Bildung einer Koalition verweigern.“, mahnt Ulla Schmidt. „Der Druck auf Martin Schulz steigt in diesen Stunden extrem“, kolportiert Reinhold Robbe. Die Fraktion „steht nicht mehr geschlossen hinter ihm.“

Nur allzu bald teilt der nun wieder gut orientierte SPD-Generalsekretär Hubertus Heil mit: "Die SPD ist der festen Überzeugung, dass gesprochen werden muss. Die SPD wird sich Gesprächen nicht verschließen."

Den Bundespräsidenten, dessen SPD-Mitgliedschaft während seiner Amtszeit ruht, wird es ganz neutral gefreut haben dies zu hören. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Der vierte Akt beginnt am 7. Dezember mit einem Sonderparteitag. Jetzt wird die revidierte Position demokratisch unterfüttert. Andrea Nahles freut und echauffiert sich: "Die SPD wird gebraucht. Bätschi, sage ich dazu nur. Und das wird ganz schön teuer. Bätschi, sage ich dazu nur."

So ein Jahr kann man nicht abschütteln. So ein Jahr steckt einem in den Knochen...“, zeigt sich Martin Schulz betroffen und gezeichnet vom Wahlkampf. Auch er wirbt für Gespräche, weist aber darauf hin, dass ein solcher Beschluss immer noch „keine Option vom Tisch nimmt und uns alle Wege offen hält“. Neben einer großen Koalition seien auch andere Lösungen durchaus möglich.

Klarsichtig erkennt er und spricht es auch aus: „Wir haben nicht nur diese Bundestagswahl verloren, sondern wir haben die letzten vier Bundestagswahlen verloren. Wir haben nicht nur dieses Mal 1,7 Millionen Stimmen verloren, sondern 10 Millionen seit 1998 - fast die Hälfte unserer Wählerschaft. Deshalb wird es nicht genügen, nur auf das Jahr 2017 zu schauen. Wir müssen schonungslos die letzten 20 Jahre aufarbeiten... Wir haben es nicht geschafft, einen Gesamtentwurf für die Zukunft unseres Landes zu entwickeln. Wir haben es nicht geschafft, die Frage ausreichend zu beantworten: Wofür steht die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert?

Wahre Worte. Eine zutreffende Analyse, die allerdings nicht alle Anwesenden begeistert. „Schonungslos...20 Jahre...aufarbeiten“ – Spatenstiche zu seinem Grab?

Sondierungsgespräche auf Basis des Wahlprogramms werden an diesem Tag zögerlich abgenickt und es wird beschlossen, dass über eine Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ein weiterer Parteitag entscheiden soll. Rund zwei Drittel der Delegierten sind nach Schätzung der Landesverbände gegen eine Koalition.

Leitlinien für das weitere Vorgehen: „Wir werden ausloten, ob und wie eine Regierungsbildung möglich ist. Es gibt für uns keine Vorfestlegung und keinen Automatismus. Für uns ist dabei auch klar: Die Verantwortung der SPD besteht nicht automatisch darin, dass sie sich für den Eintritt in eine große Koalition zur Verfügung halten muss. Maßstab für eine Koalition bleibt für die SPD einzig und allein die Umsetzbarkeit des inhaltlichen Wählerauftrags...

Der Vorsitzende wird mit 81,94 Prozent der Stimmen ohne automatischen Automatismus wieder gewählt.

Und die Zustimmung fällt auf 20%.

Die Ergebnisse der Sondierung überzeugen viele Sozialdemokraten auf dem nun folgenden „Ordentlichen Parteitag“ am 21. Januar nicht. Auch die Impertinenz einiger Verhandler der Union, die sich gerierten, als hofften sie auf ein Scheitern, um sich der inzwischen lästigen Kanzlerin entledigen zu können, lässt viele Delegierte an einer gedeihlichen Zusammenarbeit in einer Koalition zweifeln.

Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.“, krakeelt Frau Nahles in einer eher von Vehemenz als von Eloquenz geprägten Rede in den Saal. Freundlich aber bestimmt attestiert indes Kevin Kühnert der Parteiführung eine "wahnsinnige Kehrtwende".

Erst Ergänzungen zum ursprünglichen Leitantrag bringen die Zustimmung zu Koalitionsverhandlungen. Heiko Maas gibt das Ergebnis bekannt: Ja: 362 (56,4 %), Nein: 279 (43,4 %), eine Enthaltung.

Das ist gelebte Demokratie. Nach einer leidenschaftlichen und kontroversen Debatte hat der SPD-Parteitag den Weg frei gemacht für Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU.“, vermeldet die Website der Partei umgehend. Ach so? „Gelebte Demokratie“ ist es also, wenn man das Gegenteil des Versprochenen tut. Ein originelles Synonym. Passt scho.

Und nun wird es erst richtig peinlich. Von einer Bürgerversicherung, die diesen Namen verdient, ist im abschließenden Koalitions-Papier nicht mehr die Rede. Nicht einmal über eine geänderte Honorarordnung für Ärzte wird man sich einig. Also darf sich eine Kommission bis zum Jahre 2019 mit dem Thema befassen, völlig unverbindlich natürlich. Der ausgehandelte Vertrag ist gut bestückt mit etlichen Kommissionen dieser Art.

Auch die geforderte Abschaffung der sachgrundlosen Befristung findet nicht statt. Die verschwurbelte Vereinbarung zu diesem Punkt ist fadenscheinig und kaum im Sinne der Betroffenen. Über Vermögenssteuer, die Erhöhung der Erbschaftssteuer oder gar eine Reform der Einkommensteuer hatte Olaf Scholz, seinen Auftrag schlicht ignorierend, gar nicht erst verhandelt. Ansonsten wimmelt das „wir wollen“, während man das „wir werden“ mit der Lupe suchen muss.

Besonders beschämend: In der letzten Nacht droht die SPD-Delegation nachdrücklich mit Abbruch, allerdings nicht um die im Leitantrag geforderten inhaltlichen „Verbesserungen“ gegenüber der Sondierung durchzusetzen, sondern um der hanseatischen Diva Scholz das einflussreiche Finanzministerium zuschanzen zu können. Den „Vizekanzler“ gibt es dann noch oben drauf. Dieses Verhalten konterkariert eindeutig die anschließenden, sich aber schnell abnutzenden Beteuerungen, es sei ausschließlich um Inhalte gegangen in dieser Koalitionsverhandlung.

Die Zustimmung fällt auf 18%.

Sich im Wahlkampf bis zur Unkenntlichkeit verbiegen zu lassen, war Martin Schulz erster folgenschwerer Fehler. Nun folgt der zweite. Noch bevor überhaupt entschieden ist, ob die Partei sich an der Regierung beteiligen wird, versucht Martin Schulz dem Gerangel um den besten Platz im Kabinett ein Ende zu setzen.

Dem Irrtum unterliegend, der Vorstand würde sich auch zukünftig an den einstimmig getroffenen Beschluss halten, die Oppositionsrolle zu übernehmen, hatte der Vorsitzende dieses Vorstands am Tag nach der ruinösen Bundestagswahl erklärt: „In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten“.

Nun aber, als sich eine breite Mehrheit der Parteispitze in überraschender Geschwindigkeit anders entschieden hat und heftig für eine GroKo wirbt, möchte er doch ein Amt in dieser Regierung. Seiner zweifelsfrei vorhandenen Qualifikation gerecht werdend, möchte er das Ministerium des nicht unumstrittenen Sigmar Gabriel besetzen.

Niemand fragt nach dem Grund für seinen Sinneswandel. Niemand fragt, ob dies eine einsame Entscheidung des Martin Schulz gewesen sei oder ob die anwesende Andrea Nahles und Andere ihm vielleicht zu diesem Schritt geraten oder gar abgeraten hätten. Das gefundene Fressen ist zu lecker, als dass die Medien es verschmähen könnten: Ein kolossaler, ein beispielloser, ein empörender „Wortbruch“, der sich ausgezeichnet vermarkten lässt.

Beispiellos? Hatte nicht noch vor Kurzem Andrea Nahles eine Regierungsbeteiligung in Basta-Manier grundsätzlich ausgeschlossen? Hatte nicht Olaf Scholz den Hamburgern noch im Dezember versprochen, keinem Kabinett in Berlin beizutreten und auch 2020 wieder für das Amt des Bürgermeisters zu kandidieren? Hatte er sich dabei vielleicht nur versprochen? Oder ist einfach nicht verstanden worden, dass es sich bei diesen Sätzen lediglich um das von Politprofis gern genutzte Dementi zur Verstärkung des tatsächlichen Wunsches handelte, dem Folge zu leisten man sich dann nach hartnäckigem Drängen einiger Freunde in der Partei nicht verschließen kann?


Man lobt sich selbst lauthals für die „staatstragende“ Einsicht, verstummt jedoch vollkommen, wenn dem Verkünder dieser Einsicht als Einzigem „Wortbruch“ vorgeworfen wird. Vielleicht bedarf es ja zur Qualifizierung für höhere Ämter den Beweis, dass man auch einen „Freund“ ungerührt im Regen stehen lassen kann. Falls dem so ist, wurde dieser Beweis unisono schweigend erbracht. Auch eine Form von „Solidarität“. Schon Tucholsky wusste: „Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diese Fehler ausnutzen.

Auch Sigmar Gabriel spricht von „Wortbruch“, Schulz hätte ihm doch versprochen, dass er Minister bleiben würde. Jetzt mag er nicht mehr mitspielen, gibt die beleidigte Leberwurst und sagt zunächst seinen Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz ab. Am Trost seiner Tochter lässt er die gesamte Republik teilhaben:“Jetzt hast du doch mehr Zeit mit uns. Das ist doch besser als mit dem Mann mit den Haaren im Gesicht.“ Für die implizierte Herabsetzung entschuldigt er sich umgehend. Schulz verzeiht und zeigt Verständnis, der Sigmar sei halt auch ein „Emotionsbrötchen“. Aber von nun an gilt Gabriel seinen Parteifreunden – endgültig? - als nicht mehr tragbar im Außenamt.

Auch Schulz Tage sind gezählt. Nur zwei Tage nach seiner Ankündigung wirft der Vorsitzende das Handtuch und will nun auch nicht mehr Außenminister werden. „Jetzt ist Schulz!“ für den Genossen Schulz, dem ein „Mahlzeit“ wohl leichter über die Lippen kommt, als ein „Basta“. Der eine Parteifreund oder die andere Parteifreundin kann die „klammheimliche Freude“ darüber erstaunlich gut verbergen, denn nun dürfte auch ebenfalls Schluss sein mit diesem brandgefährlichen: „Schonungslos...20 Jahre...aufarbeiten“.

Der Mohr kann gehen. Er tut dies mit Respekt einflößender Sachlichkeit und bewundernswerter Nachsicht all denen gegenüber, die ihm eine unappetitliche Suppe eingebrockt haben, deren Ausdünstungen auch den Hungrigsten zwingt, den Löffel abzugeben.

Die Zustimmung fällt auf 16%.

Nach Protesten aus den Landesverbänden gegen die sofortige Installierung der Andrea Nahles, wird Olaf Scholz, der Heilsbringer mit gewaltiger 59,2prozentiger Rückendeckung in seiner Partei, kommissarischer Vorsitzender. Bis zur regulären Wahl auf einem weiteren Parteitag im April stärkt er Frau Nahles den Rücken. Eine gute Position ihr – wenn die Umstände es erfordern – auch in denselben zu fallen. Denn wer weiß, ob ihn nicht doch noch ein Ruf erreicht.

Schon bald lässt der Hamburger „primus inter pares“ vermelden, dass sein Senat zu 100 Prozent für die GroKo stehe. So sieht „Führung“ aus. Oder wird da etwa jemand weggelobt?

Karnevalesk bringt sich Katarina Barley für das vakante Ministerium als „Universalwaffe der SPD“ selbst ins Gespräch. Ihre Qualifikation: Sie ist in Frankreich zur Schule gegangen und spricht sogar Englisch. Johannes Kahrs eröffnet den „Gabriel muss bleiben“- Reigen. Abgeordnete, Bezirksfürsten und Gewerkschaftler schließen sich an. Auch Minister anderer Staaten stimmen in den anschwellenden Chor ein. Andrea Nahles warnt ganz allgemein ab: Kampagnen zur Eigenwerbung könnten sich rächen. Von nun an wird die von allen bemühte Phrase „Es geht um Inhalte – nicht um Personen.“ zur Parole.

Sigmar Gabriel hat inzwischen Kreide gefressen: Er halte nichts davon, „um Ämter zu kämpfen und sich daran zu klammern.“, erzählt er rotzfrech der Braunschweiger Zeitung: „Wir sind nun mal Gewählte und keine Erwählten.“ Natürlich kann niemand ihn daran hindern, in ihm wohlgesonnenen Ortsvereinen für die GroKo und en passant in aller Demut auch für seine weitere Bestallung zu kämpfen. Die lokalen Blätter berichten dann vom Unverständnis der Anwesenden darüber, dass so ein sympathischer, populärer Mann vielleicht ausgebootet wird. Und tatsächlich behaupten Umfragen, dass 54% der Wahlberechtigten den vor der Wahl mit 21prozentiger Zustimmung bedachten gern als Außenminister behalten möchten. Eine eigenartige Differenz, zumal andere Befragungen belegen, dass die Mehrheit der Deutschen eine erneute Große Koalition ablehnt. Wäre es da nicht ratsam, statt auf Koalition auf Neuwahlen mit dem Kanzlerkandidaten Gabriel zu setzen?

Und die Zustimmung fällt auf lebensgefährliche 15,5%.

Um behaupten zu können, dieser sich verstetigende Verlust sei eine Strafe für die Verzögerung des Koalitions-Eintritts, bedarf es einer gewissen Übung im orwellschen Doppeldenk. Doppeldenk „schließt mit ein: Absichtlich Lügen zu erzählen und aufrichtig an sie zu glauben; jede beliebige Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist, und dann, falls es wieder nötig ist, sie aus der Vergessenheit zurückzuholen; so lange wie nötig die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen und gleichzeitig die Realität zu akzeptieren, die man verleugnet.“ (Zitat Wikipedia)

Aus Furcht davor, in Neuwahlen zu sterben, plädieren Fraktion und Vorstand für den schleichenden Selbstmord in der GroKo. Oder sind die Befürworter von der Angst getrieben, dass eine NoGroKo-Entscheidung die Zustimmungswerte positiv beeinflussen könnte? Dass man erkennen müsste, programmatisch heillos versagt und sich strategisch durchgängig vergeigt zu haben? Und dass man Konsequenzen ziehen müsste?

Ist es nur unnötige Bange oder doch berechtigte Sorge, wenn sich die Frage aufdrängt, ob so oder so Angstgetriebene tatsächlich ein Vertrauen einflößendes personelles Aufgebot darstellen? Würde man die parteiführenden Koryphäen auffordern, Farbe zu bekennen, wäre die Farbe zu der man sich bekennt noch „Rot“? Oder wäre die bevorzugte Farbe dann doch lieber ein dezentes „Wischiwaschi“? Man hat den Eindruck, ein klares sozialdemokratisches Profil der Partei sei wohl eher ungewollt. Hört man da von ferne: „Basta!“?

Die Führungsriege hat offenbar den weniger klugen Satz Helmut Schmidts verinnerlicht: Wer Visionen hat solle zum Arzt gehen. Der Niedergang der SPD wird nicht aufhören, so lange sie keine anschauliche Vision der Zukunft hat. Für das „Weiter so“ sind naturgemäß die konservativen Parteien zuständig. Es ist genuine Aufgabe einer Sozialdemokratischen Partei, einen Nicht-konservativen, einen Nicht-Neo-Liberalen Gegenpol zu bilden. Die Partei wird als solche Alternative nicht wahrgenommen. Es wäre schade um die SPD, wenn sich die „Erneuerung“ auf die Namen Nahles und Scholz reduzierte. Die Partei muss die Frage beantworten: „Wofür steht die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert?“.

Ende des Vierten Akts. Und das „Publikum“ fragt sich: „Wer zieht denn hier die Fäden, wer denkt sich denn so etwas aus? Welcher Shakespeare ließe sich denn auf dieses Niveau herab?“

Im fünften Akt - Demnächst in diesem Theater! - entscheiden die Mitglieder dann nicht nur über einen Regierungsbeitritt, sie entscheiden mit ihrer Stimmabgabe auch darüber, welche Vorstellung von „Erneuerung“ sich durchsetzen wird. Die „Erneuerung“ der „Die Zukunft der SPD steht vor Ihnen!“-Andrea Nahles oder die „Erneuerung“ des Kevin Kühnert?

Der Höhepunkt der Posse erwartet uns also noch. Und auch der Pausenclown steht schon bereit: Im März wird Peer Steinbrück sein neues Buch bewerben: „Das Elend der Sozialdemokratie - Anmerkungen eines Genossen“.

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