Mehr schlimm geht nicht in zwei Stunden

52 Filme - 52 Wochen Ein Film über eine übergewichtige 16-Jährige, die von ihrem Vater missbraucht wird und ein behindertes Kind hat, wird für 6 Oscars nominiert? Das musste unser Kolumnist sehen

Was habe ich gesehen?
Precious– Das Leben ist kostbar (2009), Laufzeit: 110 min. Regie: Lee Daniels

Oscarnominierungen: 6 (Bester Film, Beste Regie, Beste Hauptdarstellerin, Beste Nebendarstellerin, Bester Schnitt, Bestes adaptiertes Drehbuch)

Warum habe ich es gesehen?
Der Film gilt in den USA als heimlicher Oscarfavorit: Falls es Gerechtigkeit gibt, dann müsste Precious gewinnen, ein Film, in dem es keine Gerechtigkeit gibt. Auch interessant: der Film ist noch immer nicht in den deutschen Kinos. Viele Verleiher glaubten wohl, das Thema verkaufe sich nicht gut. Angeblich soll er am 25. März anlaufen.

Worum geht es?
Die 16-jährige Clairee „Precious“ Jones (Gabourey Sidibe) ist übergewichtig, Mutter einer Fünfjährigen mit Down-Syndrom (Spitzname „Mongo“) und wieder schwanger. Precious wird seelisch und körperlich mißhandelt von ihrer Mutter (Mo’Nique), seit ihrem dritten Lebensjahr sexuell mißbraucht von ihrem Vater, der auch der Vater ihrer Kinder ist. Sie ist Analphabetin. Und, wie sich rausstellt, vermutlich auch noch HIV-positiv. Die Familie lebt in Harlem in einer völlig verwahrlosten Wohnung. Der Fernseher läuft den ganzen Tag. Mehr schlimm geht nicht in zwei Stunden.

Was bleibt?
Dass es dem absurderweise sehr ästhetisierten Film irgendwie gelingt, eine Geschichte zu erzählen, die mehr ist als bloß ein voyeuristisches Horror-Exempel für mißbrauchte Frauen aus prekarisierten Verhältnissen. Das liegt, vermute ich, an der literarischen Vorlage von Sapphire. Die wenigen, vernuschelten, slangdurchtränkten Worte, die Precious in dem Film spricht, sind von einer solchen Direktheit und Kraft , dass man während des Films weniger an „die Verhinderung von Teenagerschwangerschaften“ und „Bildungspläne für das abgehängte Prekariat“ und anderen neoliberal-moralisierenden Disziplinierungs-Quatsch denkt, sondern an Precious, das 16-jährige Mädchen, dass seinen Weg geht. Der Film ist immer wieder hart an der Grenze zum Sozialkitsch, als ob Ken Loach einen Werbekameramann an seiner Seite gehabt hätte. Was ihn rettet, ist wohl die schauspielerische Leistung. Precious ist so fett, dass ihre Gesichtszüge kaum mehr eine Regung zulassen. Oft rätselt man, ob die Augen überhaupt geöffnet sind. Aber mit den wenigen Gesichtsausdrücken, die ihr möglich sind, erzählt sie den ganzen Film.

Was bleibt, ist der Blick auf die Mehrfachdiskriminierung schwarzer Frauen: also die Verschränkung von sexistischer, rassistischer und sozialer Gewalt. Gut, dass solche Geschichten erzählt werden. Es ist ein Standpunkt, den wir nicht kennen (können) aus eigener Erfahrung, und der uns deshalb über Erzählungen vermittelt werden muss.

Diese Figur wäre ich gern:
Am ehesten noch eines der Mädchen aus Precious' Sonderschulklasse – die einzigen gutgelaunten Figuren in den 110 Minuten.

In dieser Szene konnte ich nicht hinsehen:
Precious kommt mir ihrem zweiten Kind zurück aus dem Krankenhaus. Die Mutter sitzt wie immer vor dem Fernseher, bellt: Wo warst du? Dann fragt sie, ob sie das Baby halten dürfe? Precious willigt ein nach kurzem Zögern. Die Mutter (Großmutter) hält ihr Enkel im Arm und bitte Precious, etwas zu trinken aus der Küche zu holen. Kaum dreht sich Precious um, wirft die Mutter das 3-Tage-alte Baby auf den Boden.

Der typische Dialog:
Zwischen der Mutter und der Tochter entspannt sich ein furchtbares Eifersuchtsdrama um den gewalttätigen Ehemann/Vater – die Mutter erträgt es nicht, dass ihr Mann die Tochter und nicht sie sexuell begehrt.
Precious: (Murmelt irgendwas).
Mutter: „Just because you give him more children than I you think you something special? Fuck you and fuck him.“

Erinnert an:Die Farbe Lila und manche Szenen aus Trainspotting.

Was sehe ich als nächstes?
For Your Eyes Only von John Glen mit Roger Moore als James Bond

Nachdem er ein Jahr lang jede Woche ein Buch gelesen hat, sieht sich unser Kolumnist Mikael Krogerus künftig jede Woche einen Film an. Letzte Woche: )

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