Die Enden der Parabel - in den 100ern - vom Bahnfahren und Aufschieben

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Bis letzte Woche hatte ich den Wälzer überall dabei, egal ob zuhause oder unterwegs, er war immer in meiner Nähe.

Es hätte ja sein können, dass ich kurz ein wenig Muße finde. Das Buch begleitet mich von Badezimmer aufs Sofa, an den Schreibtisch und in die Küche. Selbst im Kinderzimmer finde ich mich dabei wieder, wie ich eine halbe Seite laut vorlese. Das Monterchen fragt ob das eine Geschichte ist, versteht kein Wort und hört doch andächtig zu. Ich komme nicht weiter, vor allem nicht, wenn ich Ruhe habe und mich eigentlich konzentrieren können müsste. Mal eine halbe Seite, mal drei, mal ein bisschen mehr. Es ist ein Kampf, aber das ärgerlichste ist, dass ich das Buch mag. Warum komme ich dann nicht weiter?

Irgendwann sitze ich im Bus, in der Bahn, eine knappe Stunde Fahrt, mit Umsteigen und zack! bin ich 40 Seiten weiter, gefangen. Es geht. Mit Menschen um mich herum, die seltsame Gespräche führen, nerven, mich ablenken müssten. Zwei Tage später das selbe: Kaum setzensich die Busse und Bahnen in Bewegung, verschwinde ich in diesem Sog, der mich in das Buch hineinzieht, mich anfällig macht und unruhig. Irgendetwas an Pynchons Stil schlägt eine unbekannte Saite an mir an. Vielleicht kommt daher auch diese instinktive Abwehr, ich weiß es nicht. Aber wenn ich einmal von diesem Sog erfasst werde, spüre ich das Buch, körperlich.

Diese gespannte, latent panische Stimmung in Erwartung der Raketen überträgt sich so leicht auf mich. Ich bin ganz im Buch. Wir fahren über den Rhein, über die Hohenzollernbrücke mit den Liebes-Schlössern, von Deutz in Richtung Dom, der Zug bremst langsam, weil das S-Bahn-Gleis mal wieder vertopft ist. Es quietscht, dieses knarzende, hohe, bedrohliche Qietschen der Bremsen. Ich zucke zusammen, fürchterlich erschrocken. Zum ersten Mal, ich fahre seit Jahren mit dieser Bahn. Aber das Herzklopfen und die Spannung begleiten mich noch eine ganze Zeit.

Die Toilettenszene, ehrlich, ich bin da eigentlich hart im Nehmen. Als wir vor vielen Jahren im Englischunterricht einen Film über die Gefangenen des H-Blocks sehen, packe ich seelenruhig mein Frühstücksbrot aus, während gezeigt wird, wie sie ihre Zellenwände mit Kot beschmierten. Es hat gut geschmeckt. Aber als Slothrop die Klabusterbeere aus seinem Nasenloch zieht, muss ich würgen. Mitten in der Bahn. Ich lese weiter, der Würgereiz geht nicht weg, ich verstecke mich hinter meinem Buch vor den Blicken des Herrn gegenüber. Zum Glück ist es groß genug.

Wenn ich einmal ins Lesen komme, ist alles gut. Es kostet mich aber wahnsinnig Überwindung mich hineinzustürzen, noch mehr seit der Hänsel-und-Gretel Szene. Letzte Woche nun habe ich das Buch mit auf einen Geburtstag genommen, wir haben uns sogar darüber unterhalten. Danach habe ich es zuhause ausgepackt und liegen gelassen. Vor genau einer Woche. Diesen Blog wollte ich noch am selben Tag schreiben. Es liegt immernoch dort.

Aber ich schreibe jetzt, und morgen lese ich weiter, ob mit oder ohne Bahnfahrt.

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Geschrieben von

Sarah Rudolph

neugierig, laut, wirr. // chaotic as usual

Sarah Rudolph

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