Die Verwandlung

KEHRSEITE Alles fing damit an, dass ein alter Schulkollege auf dem fünften Klassentreffen der ehemaligen Oberschüler zu M. gesagt hatte, sie sehe H., ihrem ...

Alles fing damit an, dass ein alter Schulkollege auf dem fünften Klassentreffen der ehemaligen Oberschüler zu M. gesagt hatte, sie sehe H., ihrem Ex-Freund, ähnlich.

Der frühere Mitschüler, ein freundlicher Typ, den M. zum ersten Mal nach ihrem Schulabschluss getroffen hatte, machte diese Bemerkung, nachdem er ihr Gesicht angestarrt hatte, als ob ihm plötzlich etwas Eigenartiges aufgefallen sei. - "Damals in der Schulzeit warst du fülliger und dein Gesicht wirkte viel runder. Aber jetzt, wo du so mager bist, siehst du H. ganz ähnlich."

"Ach so? Du siehst übrigens unserer Lehrerin ziemlich ähnlich." - sagte M. und wollte gehen. Sie fand diese seltsame Bemerkung ihres alten Schulkameraden, der jetzt bei einer Bank angestellt war, gar nicht witzig. Den Namen H. zu hören tat ihr weh. Dieser Ex-Freund, mit dem sie seit der Schulzeit vier Jahre lang zusammen war, hatte sie vor einem Jahr plötzlich verlassen und ein anderes Mädchen geheiratet. Das mussten alle Klassenkameraden wissen, da außer ihr alle eine Einladung zur Hochzeit bekommen haben sollten.

Doch dieser freundlich lächelnde Bankangestellte blieb hartnäckig bei seinem Thema: "Vielleicht ist es auch wegen der kurzen Haare. Damals hattest du ja ganz langes Haar. Deswegen sahst du total anders aus. Aber komisch. Du hast nicht gerade ein besonders jungenhaftes Gesicht. Trotzdem bist du ihm so ähnlich ... ach ja, H. hat ja auch ein schönes etwas mädchenhaftes Gesicht. Erinnerst du dich noch an das Schulfest?" Natürlich erinnerte sich M. gut an das Schulfest vor sechs Jahren, als die Jungen sich als Mädchen verkleidet hatten und H. der Schönste gewesen war. Das hatte bei M. Eindruck gemacht.

Am Abend stand M. stundenlang vor dem Spiegel. Sie betrachtete ihr eigenes Gesicht aus allen Richtungen. Die Ähnlichkeit zu H. war gar nicht schwer zu finden. Augen, Augenbrauen, Nase, Mund, Kinn, die Gesichtszüge, alles war ähnlich mit H. Sie fand es komisch, dass sie die Tatsache bis heute niemals bemerkt hatte. Aber je genauer sie sich anschaute, desto größere Ähnlichkeit fand sie zu dem Mann, den sie noch immer liebte, der aber mit seiner frisch geheirateten Frau in ein fernes Land gezogen war. Sie konnte lange nicht ihre Augen vom Spiegel abwenden. Und irgendwann hatte eine Idee sie erfasst. Die Idee, zu ihm zu werden. Wenn sie selbst zu ihm würde, müsste sie nicht länger unter der wahnsinnigen Sehnsucht nach ihm leiden, dachte sie.

Am nächsten Tag kaufte sie sich ein paar Hemden und Hosen in dem Geschäft, in dem er immer seine Kleidung gekauft hatte. Am folgenden Tage kaufte sie die gleichen Schuhe, gleichen Strümpfe, die gleiche Tasche, die Zeitschriften, die er gelesen hatte, das Parfüm, das er benutzt hatte, das gleiche Fahrrad, mit dem er immer in die Stadt gefahren war. Sie fand einen Job im Plattenladen, wo er früher gejobbt hatte, sie hörte die Musik, die er immer gehört hatte, trank wie er ihren Kaffee ohne Zucker und Milch, ging, lief und saß wie er. Sie wurde ihm immer ähnlicher. Sie fühlte sich immer mehr wie er. Sie unternahm eine Weltreise mit dem Fahrrad, wie er es gemacht hatte. Sie arbeitete als freier Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in einem Entwicklungsland - genauso, wie er es gemacht hatte.

Als sie nach dieser Arbeit in die Heimat zurückkam, traf sie im Flughafen den früheren Schulkollegen, der beim Klassentreffen zum ersten Mal ihre Ähnlichkeit zu H. bemerkt hatte. Als er sie jetzt erblickte, machte dieser Typ verwunderte runde Augen und sagte: "Oh, bist du doch zurückgekommen, H.?"

M., die nun zu H. geworden war, sagte fröhlich zu dem alten Freund: "Ja, ich habe mich anders entschieden. Ich will wieder zusammen mit M. leben. Ich habe mich bereits scheiden lassen. Ich fange mit M. ein neues Leben an."

Aber sein Gegenüber, dieser freundliche Bankangestellte, machte nur ein mitleidiges Gesicht, weil er neulich von anderen Schulkameraden gehört hatte, dass M. kurz nach dem letzten Klassentreffen plötzlich verschwunden war.

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