In dieser Woche wäre Marcel Reich-Ranicki 100 geworden: der wohl einzige Kritiker in einer an großen Kritikern nicht armen Tradition – man denke an Alfred Kerr oder Kurt Tucholsky, zwei, die auch Reich-Ranicki verehrte –, dem in Deutschland je das Label „Literaturpapst“ angeheftet wurde. Und wohl auch der letzte. Das hat auch mit dem Strukturwandel einer Öffentlichkeit zu tun, in der sich die Orte der Kritik vervielfältigt haben. Längst ist es nicht mehr ausgemacht, wo die sitzen, die bestimmen, was lesenswert ist und was nicht. Noch in den Literaturessorts?
Oder sind es die teilweise exzellenten Blogs im Netz, die den Ton angeben, sekundiert von einer Masse von Nutzern in den sozialen Medien, die mit „Daumen rauf“ oder „Daumen runter“ über die Zukunft von Büchern befinden? Reich-Ranicki war tonangebend in einer Zeit, in der klar war, wohin man schauen musste, um zu erfahren, ob ein Roman oder Lyrikband etwas taugte oder nicht. Das lag auch an ihm, an der Art, wie er kritisierte, für ein Buch plädierte oder dagegen.
Anmaßung und Geplapper
Um den Verkauf eines Buches anzukurbeln, bedurfte es nicht einmal des positiven Urteils Reich-Ranickis, denn selbst ein Verriss aus dem Munde des „Literaturpapstes“, so betont Gunter Reus, schlug sich beinahe automatisch im Verkaufsrang eines belletristischen Buches nieder. Der Zusatz „aus dem Munde“ ist dabei entscheidend, denn es waren vor allem die Bücher, die Reich-Ranicki in seiner mit wechselnden Mitstreitern – immer mit Hellmuth Karasek, lange mit Sigrid Löffler, kürzer mit Jürgen Busche, Klara Obermüller und Iris Radisch – bestückten Fernsehsendung Das Literarische Quartett von 1988 bis 2001 besprach, die davon profitierten.
Reich-Ranicki war sich dessen bewusst: „Ruth Klüger hat ein kluges Buch mit dem Titel weiter leben . Eine Jugend über Auschwitz geschrieben. Sie erhielt die positiven Kritiken, die sie verdiente, und es wurden sechs-, siebentausend Exemplare verkauft. Aber am Tag nach unserer Sendung konnte der Verleger die Tür zu seinem Büro kaum öffnen, weil die deutschen Buchhandlungen so viele Bestellungen gefaxt hatten.“ Freilich erschöpft sich der Großkritiker Reich-Ranicki für Reus nicht in Verkaufszahlen. Reich-Ranicki, der am 2. Juni 1920 in Polen geboren wurde, bald ins deutsche Berlin zog, wo er von einem Deutschlehrer – die Mutter mit ihrer Liebe zu (deutscher) Kultur und Literatur hatte das vorbereitet – in seiner Begeisterung für Heine, Mann und anderen bestärkt wurde; Reich-Ranicki, der als Jude nicht studieren durfte und, nach Polen deportiert (anders als die Eltern, die im KZ ermordet wurden), das Warschauer Ghetto überlebte, weil er zusammen mit seiner Frau Teofila („Tosia“) von einem Paar versteckt wurde, dem er Geschichten erzählte, Versionen der Stoffe, aus denen die große Literatur ist; Reich-Ranicki, der nach England emigrierte und nach der Rückkehr ins Nachkriegs-Polen geheimdienstlich tätig war, später mit Publikationsverbot belegt war und ab 1958 Karriere (zuerst bei der Zeit, dann lange als Literaturchef der FAZ und schließlich im ZDF) im Land der Mörder seiner Eltern machte – dieser Marcel Reich-Ranicki interessiert Gunter Reus vor allem als Literaturvermittler und „Pädagoge“.
Und er interessiert ihn heute, vor dem Hintergrund, dass der Journalismus in einer Vertrauenskrise stecke: „Die Nachfrage nach sorgfältig recherchierter und überprüfter Information sinkt ebenso wie die Glaubwürdigkeit ihrer Vermittler“, schreibt der Medienwissenschaftler Reus. In Zeiten der Konkurrenz mit Angeboten aus dem Internet und schwindender Autorität journalistischer Formate leidet auch der Kulturjournalismus: „Das böse Wort von der Lügenpresse“ trifft auch das Feuilleton. Und damit Journalisten, die „nie oben in der Gunst des Publikums“ gestanden hätten. „Feuilleton“, meint Reus, „wurde und wird vielfach gleichgesetzt mit Abgehobenheit, Bildungsjargon und Imponiergehabe, mit Dünkel und Abgrenzung vom Massengeschmack, aber auch mit Oberflächlichkeit, Geplapper und Anmaßung. “
„Vertrauensverlust“, da ist sich Gunter Reus sicher, „ist nur durch Qualität zu begegnen“. Die aber brauche „Vorlagen und Vorbilder“.
Es macht den besonderen Reiz von Reus’ Versuch aus, dass er zum Vorbild einen kürt, den der Vorwurf begleitet, das Geschäft der Kritik ins oberflächlichste Medium seiner Zeit getragen zu haben: ins Fernsehen. Und der wusste, was er tat: „Der Hauptvorwurf ist, das Quartett sei oberflächlich. Darauf kann ich nur sagen: Es ist nicht oberflächlich, es ist sehr oberflächlich, unerhört oberflächlich.“
Zwischentöne, später
Eine starke Volte, bedenkt man, dass gerade das Feuilleton, sei’s begründet, sei’s aus Distinktionszwang, das Fernsehen noch immer kritisch beäugt. Auch Reus’ Feier der „vier Säulen“, wie er sie nennt, auf denen guter Journalismus beruhe (Publikumsbezug, Verständlichkeit, Unterhaltsamkeit des Behandelten sowie ein fester Standpunkt, von dem aus die Kritik verfährt) und die er im Kritiker Reich-Ranicki auf exemplarische Art und Weise verwirklicht sieht, leuchtet ein, gerade in Zeiten, in denen die Klage über Relevanzverlust oft einhergeht mit der kulturkritischen Erzählung eines Niveauverlusts. Dass dem nicht durch den Rückzug in Abstraktion und Jargon zu begegnen ist: klar.
Ein Verdacht bleibt jedoch: Könnte es sein, dass Reich-Ranicki, der immer für ein klares Urteil plädierte, der Werke trotz gelegentlicher Zwischentöne immer entweder als gelungen oder misslungen ansah, mit einem Bein schon in einer Medienkultur stand, die mit ihrer „Daumen rauf oder Daumen runter“-Mentalität einen entscheidenden Beitrag dazu leistet, dass die Nachfrage nach gutem Feuilleton sinkt? Eine Antwort würde anderes erfordern als ein Plädoyer, das Reus’ Essay, ganz im Geiste seines Vorbilds, ist.
Info
Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle Gunter Reus wbg Theiss 2020, 224 S., 25 €
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