Ich bin einer von über 21 Millionen hier mit Migrationshintergrund. 21.000.000! Das ist gut jeder und jede Vierte, hat das Statistische Bundesamt am 28. Juli verlautbart, dem Tag, an dem wir den 81. Geburtstag meiner Mutter gefeiert haben. Sie ist in Berlin geboren. Ihre Eltern: deutsch. Sehr. Meinen Migrationshintergrund habe ich durch meinen Vater. Im Oktober 1940 wurde er geboren, in einem Dorf auf einer dalmatinischen Insel. Gerade noch erstes Jugoslawien, dann von Mussolini annektiert, später zweites Jugoslawien. Da gefiel es ihm nicht. So kletterte irgendwann ein 20-Jähriger über einen Zaun zwischen Istrien und Friaul, lief und lief, bekam in der ersten Kneipe auf dem Weg einen Schnaps aufs Haus, bevor ihn die Polizei mitnahm. Kam nach Deutschland, traf meine Mutter, gründete mit ihr eine Familie. Zwei Söhne.
„Ausländer“ waren andere
Mein Vater, mein Bruder und ich sind drei von gut zehn Millionen mit Migrationshintergrund und deutschem Pass. Mein Vater hat ihn erst seit den frühen nuller Jahren. Warum? Davon ließe sich erzählen. Mir ist erst spät aufgegangen, dass ich ein Mensch mit Migrationshintergrund bin. Das war vor ein paar Jahren, bei einer Stellenausschreibung: Personen mit Migrationshintergrund würden im Bewerbungsverfahren bevorzugt. Ich musste googeln. Siehe da: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.“ Diesen Hintergrund hatte ich. Den Job nicht.
Erfunden wurde der „Migrationshintergrund“ als demografische Größe mit dem Mikrozensus 2005. Bei dieser „kleinen Volkszählung“ wurden erstmals auch Informationen zur Zuwanderung, Staatsangehörigkeit und Einwanderung abgefragt. Doch schon in den 1990ern fand man mit ihm eine begriffliche Lösung für ein verzwicktes Problem. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme Osteuropas kamen plötzlich sehr viele ins Land, die als deutsche „Volkszugehörige“ sofort Staatsbürger wurden. Viele von ihnen waren in mancher Hinsicht gar nicht so verschieden von Zuwanderern, die als Ausländer nach Deutschland gekommen waren. Nicht alle Volksdeutschen etwa sprachen fließend Deutsch. Mein kroatischer Vater auch nicht. „Kotelett, aber warm“, erzählt er, habe er in Duisburg im Schnellimbiss immer bestellt. Der junge Hilfsarbeiter hatte noch Probleme mit den deutschen Adjektiv-Endungen.
Der Neologismus „Migrationshintergrund“ schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Denn er passte auch bei denen, die als Ausländer gekommen waren und eingebürgert wurden. Einmal sprach ich mit einem „Russlanddeutschen“, dessen traurige Augen ich noch vor mir sehe. „In Kasachstan“, sagte der, „ waren wir immer die Deutschen. Hier sind wir die Russen.“ Ein Deutscher mit Migrationshintergrund. Der Mann mit dem ernsten Blick blieb für die meisten hier vor allem eins: kein Deutscher. Aber war mein Zweifeln an meinem eigenen Migrationshintergrund nicht bereits Beweis genug, dass die gut gemeinte begriffliche Lösung nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss war? Was mein Zweifel verbarg, war doch eigentlich das hier: Kein Deutscher? Ich doch nicht! Denn „Ausländer“, das waren andere.
In dem kleinen Kaff am Niederrhein, wo ich aufwuchs, waren das meist Türken. Oder die Neue in der Schule, irgendwo aus Nahost (ich weiß wirklich nicht mehr, woher), mit der in der großen Pause dann alle spielen wollten, angeführt von der rotbackigen, katholischen Heike, in die ich verknallt war.
Fremd fühlte ich mich nie in Deutschland, warum auch? In Kroatien, im Sommer, aber umso mehr. Wie das wehtat, der „Švabo“ zu sein! Das hatte mit meinem Geburtsort zu tun. Mit meiner deutschen Mutter. Aber auch mit meinem Vater, dessen schönen südslawischen Akzent, mit dem er sein bald nahezu perfektes Deutsch immer noch spricht, ich erst mit acht oder neun so richtig wahrnahm. Er sprach eben wie mein Vater. Und war kein Gastarbeiter, sondern politischer Emigrant, studiert hatte der hier, sogar promoviert, anders als so viele „Jugos“. Ich war privilegiert.
Die Geschichten von Arbeitsmigration, die etwa Aras Ören in seiner Berliner Trilogie erzählt, die vom rassistischen Morden, die vernimmt, wer einmal der Aufführung der NSU-Monologe beiwohnen konnte, erzählen freilich etwas ganz anderes. Der „komische Anton“ zu sein, nach meinem zweiten, leichter auszusprechenden Vornamen, den ich von meinem Olivenbauer-Großvater und nicht vom kroatischen Ustaša-Führer habe, das war mir doch egal. Selbst als es im Geschichtsunterricht mal von einem Mitschüler hieß : „Jeder Tritt ein Britt, jede Granat ein Kroat“ ... der hatte eben einen sehr alten, sehr deutschen Vater. Mit Fronterfahrung.
Migrationshintergrund haben, Hand aufs Herz, für mich noch immer nur andere. Kann der Mikrozensus sagen, was er will. Gemeint ist in öffentlichen Debatten ja oft auch ein bestimmter Hintergrund, selbst wenn das nicht dazugesagt wird. Meiner ist das nicht. Auch nicht der meiner Ami-Freunde, die in Berlin-Kreuzkölln wohnen, schreiben oder Kunst machen. Nicht der Hintergrund der Israelis , Bolivianer oder Franzosen, die ich hier kenne. Sicher nicht der meines Schweizer Kollegen.
Jenseits von Stellenmarkt und Diversity-PR kommt Migrationshintergrund nur dann zur Sprache, wenn es Probleme gibt. Köln, Stuttgart oder Frankfurt, da tritt er in den Vordergrund. Wird gefragt, wie viele von denen Migrationshintergrund haben, die dort auffällig wurden, so ist die Frage nicht einmal die, ob da „Ausländer“ dabei waren. Niemand interessiert sich für Austauschstudenten oder Au-pairs. Für Staatsangehörigkeit auch nicht. „Wie viele waren jung, muslimisch, männlich?“ Das ist die Frage. Und nach ihrer Beantwortung ist das Interesse an den Geschichten derer, die diesen Hintergrund haben, gleich null – null Interesse also an genau dem Hintergrund, nach dem vordergründig gefragt wurde. Dass die Empirie solches Fragen manchmal ins Recht setzt – geschenkt.
Denn der Begriff ist ruiniert. Und die Sache zum Problem verengt. „Migrationshintergrund“ trifft weder 21 Millionen, noch taugt es als Erklärung für Devianz. Eine Alternative muss her. Aber hilft bereits ein neues Wort? Die taz veranstaltete einmal eine Umfrage: „Neudeutscher“ gewann, bewegte sich aber ganz auf der symbolischen Ebene. „Antivergreisungshelfer“ und „Buntmacher“ gingen weiter, weil diese Vorschläge auf die gesellschaftliche Rolle derer zielten, denen sie einen neuen Namen geben wollten. Ein bisschen sponti klang das allerdings. Eher provo war dagegen jüngst der Vorschlag des Journalisten Hasnain Kazim, geboren in Oldenburg, aufgewachsen in Hollern-Twielenfleth: „Migrationsvorteil“. Wenn ich so nachdenke: anderthalbsprachig aufgewachsen, immer ein Ferienziel, positiv diskriminiert im öffentlichen Dienst – okay. Ist aber nicht die Realität aller. Und ein Fall von „Wir drehen den Spieß jetzt mal um“. Klappte schon bei den „alten weißen Männern“ nicht, im Rahmen des Gehabten weiterzuwurschteln und zu vergessen, dass zweimal „falsch“ nie einmal „richtig“ ergibt. „Migrationserbe“ böte ein neues Framing, meint der Schriftsteller A. Kadir Özdemir, in der Türkei geboren, in Braunschweig aufgewachsen.
Land mit Migrationserfahrung
„Erbe“, da wird’s praktisch, impliziere „die Gemachtheit, die Hinterlassenschaft früherer Debatten, das Werk und die Tradition anderer, die mit ihren Debatten über Migration, über (gemachte) Differenzen einen Schneeball zu einer Lawine gerollt haben“. Das Bild vom Schneeball, von vielen Händen zur Lawine gerollt, gefällt mir. Doch ich sähe es gerne durch ein anderes, weniger katastrophisches, ersetzt: Walter Benjamin spricht davon, dass die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale hafte. Erzählen heißt für ihn, Erfahrungen austauschen zu können.
Anders als Özdemir, der meint, man könne nur von eigener Erfahrung sprechen, würde ich lieber von „Migrationserfahrung“ sprechen hören, ein Begriff der in der Diskussion gelegentlich fällt. Noch lieber: die Migrationserfahrung erzählt bekommen. Denn Erzählen, das ist etwas Praktisches, was das Leben formt und weitergegeben wird: Die Erzählung „senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen“, schreibt Benjamin. Erzählen, sagt er, ist ein Vorschlag, „die Fortsetzung einer (eben sich abrollenden) Geschichte angehend“. Ein Land als „eben sich abrollende Geschichte“: was für ein Bild! Erzählt und weitererzählt von Männern, Frauen, Schwestern und Brüdern, Fremden und Vertrauten. Nicht von 21 Millionen erkennungsdienstlich zementierten Identitäten. Zigmillionen offene Geschichten. Ein ganzes Land mit Migrationserfahrung.
Kommentare 40
@ jesus loves me
Der Autor ist Deutscher, hier geboren. Er hat kein anderes Land. Was soll die billige Hetze? Bist Du ein Bot?
Ich verstehe überhaupt nicht, dass Mensch immer wieder Typisierungen seiner Selbst vornimmt, das sogar mit Vehemenz betreibt und selbst noch in Hasshandlungen endet.
Und ich verstehe schon gar nicht, dass Mensch diese skandalöse Haltung auch noch ihren Staatsgebilden bzw. Politikern zubilligt, die ganze Bevölkerungen zu Schurkenstaaten stempeln, um z.B. Massenmord an muslimischen Bevölkerungen begehen. Und es scheint umgekehrt zu sein, nämlich, dass Staatsorgane solche Diskussionen gezielt auslösen und unterhalten, um die Bevölkerung auf ihre verkommene Reise gegen „Migranten“, die sie zuvor z.B. millionenfach zu Flüchtlingen gebombt haben, mitzunehmen, wie im Spätsommer 2015 in Deutschland.
Es ist doch ein mieser Witz, dass dieser Autor uns seinen Migrationshintergrund darstellen muss (?), um seine volksdeutsche Legitimität zu erklären (auch zu rechtfertigen?).
eine typisch falsche libdemokratische reaktion auf einen faschisten. keiner von euch drein "hat" ein land, aber ganz sicher "gehört" ihr einem land/staat. wenn der staat einen krieg anzettelt schickt er euch in den krieg, und spätestens da sollte jeder merken wer wem gehört.
<<Es ist doch ein mieser Witz, ..>>
Der Gedanke kommt mir eher bei ihrem Kommentar.
Wahrscheinlich haben Sie keine Erfahrung mit Migrationshintergrund. Also versuchen Sie das Geschriebene einfach zu akzeptieren.
Schöner Artikel und schöner Satz.
<<Zigmillionen offene Geschichten. Ein ganzes Land mit Migrationserfahrung.>>
Ich finde es ja gut, dass man sich echt Gedanken um ein besseres Wort für Migrationshintergrund macht. Auf jeden Fall ist es besser als, wenn man sich krampfhaft Gedanken machen muss, ab wann man als echter Deutscher durchgeht.
Aber wozu einen Migrationshintergrund überhaupt erfassen?
„Wahrscheinlich haben Sie keine Erfahrung mit Migrationshintergrund. Also versuchen Sie das Geschriebene einfach zu akzeptieren.“
Versuchen Sie einfach, meinen Kommentar vor dem Hintergrund meiner Empathie dem Autor gegenüber zu verstehen. Was er uns mitteilt, ist nur vor dem Hintergrund einer inakzeptablen intoleranten Gesellschaft zu verstehen – und das ist, was ich geißle.
@freiHeit
Ja, das bringt uns jetzt weiter. Statt gegen rechts zusammenzustehen, intellektuelle Spaltereien und Dogmatismus.
<<um seine volksdeutsche Legitimität zu erklären (auch zu rechtfertigen?>>
Natürlich träumt ja jeder mit Migrationshintergrund nur davon, als echter Volksdeutscher anerkannt zu werden.
Haben sie nicht begriffen: Ich bin nicht auf der Ebene der Migranten. Ich bin auf der Ebene von Gesellschaft, die überhaupt meint, zwischen sich und anderen Menschen unterscheiden zu sollen. – Dies ist meine letzte Wortmeldung: Ich übe Gesellschaftskritik, nicht Migrantenkritik. Ich dachte, dass Sie mich in der Zwischenzeit besser kennen gelernt haben. Sie führen mit mir eine Pseudodiskussion.
Ja, ich hatte Ihre "Gesellschaftskritik" im Blog "Ist das noch Neugier oder schon Rassismus?" auch schon nicht entdecken können.
Und ein Fall von „Wir drehen den Spieß jetzt mal um“. Klappte schon bei den „alten weißen Männern“ nicht, im Rahmen des Gehabten weiterzuwurschteln und zu vergessen, dass zweimal „falsch“ nie einmal „richtig“ ergibt.
Eben. Das hat den armen Jesusliebtmich dermaßen traumatisiert, dass er jetzt ständig als Antichrist unterwegs sein muss.
"Jesus rettet mich" wäre besser.
Aber wozu einen Migrationshintergrund überhaupt erfassen?
Für Herrn Gladic selbst ist die Sache ja relativ übersichtlich. Aber viele Einwanderer sind ja nicht nur "auch" Türken, Chinesen oder vielleicht auch Briten, weil sie dafür angesehen werden, sondern weil es ihnen selbst wichtig ist.
Wenn man im Wesentlichen nur mit einer Kultur unterwegs ist, stellt man sich die Frage natürlich weniger, oder es sind üblicherweise Smalltalker, die sie einem aufgrund äußerlicher Merkmale etc. stellen. (Schonwissen, "woher kommen Sie denn ursprünglich?")
Im letzeren Fall wird die gegenseitige Wahrnehmung von Einwanderern /ihren Nachkommen einerseits und Immerschondagewesenen leichter, wenn man die Sache weniger national als staatsbürgerlich ansieht, z. B. dem französischen oder amerikanischen Selbstanspruch.
Bleibt aber eh schwierig, wenn bei jedem Fußballspiel die schweren inneren Konflikte wieder neu aufbrechen, inklusive im Feuilleton. :)
Ich gebe Ihnen vollkommen recht. – Aber finden Sie das nicht schrecklich? Meinen Sie nicht, dass daran etwas verändert werden muss. Ich behaupte schon ziemlich lange, dass eine zunehmende Pervertierung der Gesellschaft stattgefunden hat und noch stattfindet, eben, weil man innerhalb von kürzester Zeit „jeden Winkel der Erde“ erreicht – und zwar nicht nur mit WhatsApp-Botschaften, sondern auch mit Waffen – gegen Schurkenstaaten selbstverständlich. Irgendwer ist immer des Anderen Teufel. Das finde ich entsetzlich.
Und immer wird auch hier in der dFC von Chancen geredet (z.B. auch im Zusammenhang mit dieser Corona-Pandemie), und in Wahrheit bedienen bekannte Halunken immer weiter die Zauberformel „Never let a good crisis go to waste“.
So war es auch, als aus 2015 aus 1,2 Millionen Kriegsvertriebenen über Nacht „Migranten“ wurden, deren Zuzugsrechte selbstverständlich immer und immer wieder zur Disposition gestellt werden dürfen – wie praktisch. Hiergegen richtet sich meine Kritik.
...
Unabhängig von dieser Diskussion bleibt unbestritten, dass Fremdes, was immer das auch ist, zunächst einmal Unbehagen auslöst. Und es gehört dazu, dass es ausgehalten wird, bis die Homöostase wieder hergestellt ist, ohne Waffen resp. Diskreditierung.
Als intuitiver Mensch habe ich (anders als Flegel) kein MUSS bei Mladen Gladic gespürt, das Migrationstema darzustellen - eher ein Wollen. Doch beides sind Interpretationen, geprägt vom eigenen Werte- und Koordinatensystem.
Bei der Einleitung musste (oder wollte?) ich schmunzeln. Klingt so nüchtern-unromantisch. Sagen wir: deutsch. Waren bei der 'Familiengründung' keine Liebe und Triebe im Spiel? Ich habe kroatische Frauen durchaus leidenschaftlich in Erinnerung. Ist das bei kroatischen Männern anders?
Ich weiß nicht, ob ich den Schluss richtig verstanden habe. Walter Benjamin kommt bei mir immer gut. Erzählen ist so wichtig. Dumm nur in Zeiten, in denen die wenigsten (und die meisten davon im professionellen Kontext) zuhören möchten. Wo clicks die menschliche Begegnung ersetzen. In Corona-Zeiten potenziert.
"Erkennungsdienstlich zementierte Identitäten" (ein sehr treffender Begriff) sind alle 83 Millionen hier. Und der ENT-Demokratisierungsprozess von 'oben' in diesen Tagen verstärkt und effektiviert die Kontrolle. Auch den Verlust von erzählten Geschichten.
In der 'neuen Gesellschaft' sind - von gewissen Feigenblattthemen abgesehen - Geschichte und Geschichten störend. Der funktionale Mensch braucht keine Erinnerung. Er wird von Apparaten erinnert und stabilisiert. Zuviele und zu starke Emotionen wären da nur hinderlich.
Als Migrant, der ursprünglich aus dem Himmel kommt, verstehe ich die gesamte Diskussion um Migration nicht.^^
Von 2015 bis 2017 gehörten Syrien, Irak und Afghanistan jeweils zu den sechs Hauptherkunftsstaaten der Asylsuchenden. Etwa die Hälfte aller Schutzsuchenden kam aus drei Herkunftsländern: Syrien (455.000), Afghanistan (191.000) und dem Irak (156.000), waren also Kriegsflüchtlinge, auch auf Grund von deutschen Kriegseinsätzen.
Das ist das, worauf ich hingewiesen habe: Kriegsflüchtlinge wurden durch diejenigen, die sie heimatlos gebombt hatten, unverschämterweise zu "Migranten" umdefiniert, nicht zuletzt um solche Reaktionen zu erzeugen, wie Ihre hier.
Die Menschen, von denen ich spreche waren/sind Heimatvertriebene, keine Migranten.
»Als intuitiver Mensch habe ich (anders als Flegel) kein MUSS bei Mladen Gladic gespürt, das Migrationstema darzustellen - eher ein Wollen. Doch beides sind Interpretationen, geprägt vom eigenen Werte- und Koordinatensystem.“
Weil ich sie so gut leiden kann, Bartleby:
Erstens habe ich die entsprechende Passage mit FRAGEZEICHEN versehen – wissen Sie noch: Ein Fragezeichen sieht so aus »?«.
Zweitens tut Mensch – so er denn situativ handelt oder auch nicht – immer auch sich selbst einen Gefallen. Kann also gut sein, dass er im Augenblick seines Handelns oder auch Nichthandelns die Homöostase seines Wohlergehens bedroht sieht.
So etwas würde ich natürlich Ihnen, mir und diesem Autor niemals definitiv unterstellen. Darum die dekorativen Fragezeichen.
Hier werden Sie geholfen:
Deutschland ist ein Land, in dem es zuallererst um das Opferranking geht. Nur wer dabei ganz vorne steht, bekommt Anerkennung. Selbst auch einige Jahre auf diesem Zug mitgefahren, ist mir eines Tages dieser Widersinn in einem Streit aufgefallen, als es darum ging, wer das größte, honorigste und edelste Opfer sei.
Auch wenn meine eigene Biographie für einen Opfer-Wettbewerb erstklassige, vor allem: nachweisbare FAKTEN aufweist, bin ich aus dieser Liga der Lächerlichkeiten ausgestiegen.
Ich habe mich für SELBSTERMÄCHTIGUNG entschieden - das Beste, was ein Mensch machen kann, der sich vom Rockzipfel und Wohlwollen anderer freimachen möchte. Einige Menschen haben mich dabei - ideel - unterstützt.
Ihrer Schlussbemerkung kann ich nur zustimmen. Ich habe afghanische Nachbarn, die mit nichts als ihrer nackten Existenz in Deutschland angekommen sind. Ihre Wohnungseinrichtung ist aller Ehren wert. Davon kann ich nur träumen.
Neulich bekamen die eine neue Kücheneinrichtung. Sie boten mir ihren alten Tisch und die Stühle an. Ich habe das Angebot mit Freuden angenommen - und meine früheren Sperrholzapplikationen zum Sperrmühl gegeben.
Noch Fragen?
Thanx for the compliments and flowers. :-)
Danke für den Hinweis in Sachen "?" Habe ich natürlich gesehen. Es zu ignorieren passte freilich besser in mein situatives Konzept (siehe: Zweitens bei Ihnen).
Offenbar besitzen Sie weitaus mehr Humor, als ich Ihnen bislang abgesprochen habe. Ich freue mich - ganz ironiefrei - den mehr und mehr mitzubekommen.
Ob ich "eingebildeter Pinsel" (Prädikat von Flegel) da - ganz situativ - etwas aus Ihnen herauslocke? Falls ja, wäre dies keineswegs absichtslos ...
:-) :-)
So ein schöner Text für eine sich immer wieder verändernde Befindlichkeit, genannt Migrationshintergrund. Und es gäbe so viele andere schöne ganz konkrete Erzählungen dazu. Erzählen ist das Beste. Alles wäre gut, wenn die Menschen dem "Hintergrund" lauschen würden das gäbe einen schönen Vielfaltshintergrund. Ich wundere mich immer über Deuschland mit seinem Liederzyklus Winterreise, der beginnt mit "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus". Vielleicht neiden wir ja manchmal den "Fremden" die Vielfalt.
Warum ein anderes Wort befinden, das begrifflich ja doch auch nur auf Differenz abstellen würde? Lassen wir doch "Migrationshintergrund" als behördlichen terminus technicus, der aber im Alltag einfach nicht weiter interessiert. Ehrlich - was brächte eine neue Bezeichnung? Bestenfalls positive Diskriminierung. Es kann doch nur darum gehen, wie respektvoll man miteinander umgeht und welchen Stellenwert ein anderer kultureller, ethnischer, religiöser ... Hintergrund zugemessen bekommt.
Hier hängen gerade Unternehmen Regenbogenflaggen raus, weil LGBTQ ... -Tage sind. Ich würde mich, glaube ich, nicht so wohl fühlen, wenn ich einer der Mitarbeiter wäre, für die, oder für den extra gerade eine Flagge herausgehängt wird.
Nun, die "Winterreise", das ist doch zuerst einmal Wilhelm Müller und dann Franz Schubert. Und ja, wenn jemand nur irgendwie anders ist, erfährt er schnell ein Ausgestoßen-Sein. Vielfalt ist immer schwierig für die Menschen. Genieden wird vielleicht das Anders-Sein, aber nicht die Vielfalt. Ein Fremder ist doch nicht Vielfalt.
Genau. Damit das große Wehklagen nicht täglich größer und lauter wird, gibt es nur eines: aus diesem Hamsterrad aussteigen.
Ich kann es aus eigener Erfahrung sagen: SELBSTermächtigung tut unglaublich gut. Es macht frei von Abhängigkeiten. Und verhindert, ein Leben lang in einer Falle festzustecken.
Das heißt natürlich auch: alte Wünsche, Hoffnungen, Illusionen loszulassen - und sich neu zu orientieren. Ich habe mich mit über 60 neu erfunden. Und was ich kann, kann jeder Andere - mit wachen Sinnen und etwas Hirninhalt. Ein Studium ist dafür NICHT nötig.
Ich hoffe, es stört Sie nicht allzu sehr: An dieser Stelle bin ich gerne mal bei Ihnen.Erst seit ich Syrer und Aghanen näher kennengelernt habe, ahne ich die möglichen inneren Verwerfungen von Menschen, die von mehr als nur einer Kultur geprägt sind und mehr als nur eine Identität in sich tragen.Die Menschen der ersten Gastarbeiter-Generation der Jahre 1960 ff. sind oft schon sehr lange 'eingedeutscht' (oder wieder zurück in ihren Herkunftsländern.) Bei meinem sizilianischen Friseur Salvatore und seinem Sohn habe ich das mitbekommen.Einige der heutigen Einwanderer schaffen es sehr schnell, sich einzudeutschen, sprich sich die zeitgemäßen Prestigeobjekte möglichst schnell zuzulegen. Mich erschrickt dies. Erfordert es doch den weitestgehenden Verlust eigener Identität und eigener Herkunft.Dass das profane Lebensmotto "consumo ergo sum" auf Dauer reichen wird, wage ich energisch zu bezweifeln.
"Na klar liebt Jesus mich so, wie ich bin."
Echt? Dann bleiben sie mal so wie Sie sind, damit es wenigstens ab und an was zum Lachen gibt.
Mal ganz naiv: Wie wäre es einfach mit »Mensch«?
Das Alltagskonzept einer möglichst weitgehend praktizierten Farbenblindheit erscheint mir jedenfalls um Längen integrativer als die von korrektsprechseitiger Identitätspolitik stetig aufs Neue lancierten Worthülsen-Fabrikate.
Integration entsteht im Alltag – durch Zusammenleben, durch gemeinsame Erfahrungen und, letztlich, auch durch Partnerschaften, welche die jeweiligen ethnischen Backgrounds auf »Platz Nachrangig« verweisen. Ansonsten, Hand aufs Herz, Herr Gladić: Wie geht es Ihnen persönlich damit, mit Begrifflichkeiten bedacht zu werden, die teils korrekt-bemüht, teils albern und teils beides zusammen sind?
Sonntag, Tag des Betreuten Denkens.
Wenn Sie in Ihre Suchmaschine "Selbstermächtigung" eingeben, werden Sie einige Ergebnisse bekommen. Auch aus der unvermeidlichen Ecke: esoterischer Schmonsense.
Falls Sie es mal mit einem kleinen, feinen Büchlein versuchen möchten:
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch-die-opferfalle.html
Autor: Daniele Giglioli.
Der erste Satz: "Das Opfer ist der Held unserer Zeit", auf Seite 9.
Weitere 118 Seiten folgen. Darin zitiert sind u.a.: Richard Sennett (Autorität) zeitgenössische Ethiker, Adorno, Elie Wiesel, Pier Paolo Pasolini.
Ich habe manches nicht verstanden. Aber das, was ich verstanden habe, hat mich entschädigt. Mehr noch: bereichert.
Ich werde es bald nochmals lesen. Es ist eines jener Bücher, das sich lohnt - oder, Richard Zietz???
Das Digitale Zeitalter schlägt zurück. Erbarmungslos. Auf einen seiner schärfsten Kritiker. Au!
Ernst beiseite. Es war mein Fehler. Hier die Korrektur:
https:/www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-opferfalle.html
... mit 2 // ...
"Ich darf anderen die Einreise in mein Land verwehren."
Nö. Wer bist denn Du, das Du das "dürftest", geschweige denn "könntest"? Es ist, btw., auch nicht "Dein" Land.
"Jesus" liebt Dich, sicherlich,auch mit Deinen menschlichen Mängeln und Schwächen. Und auch Deiner Unkenntnis biblischer Weisheit(en) zum Trotze:
"Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“
Thema verfehlt. Sechs. Setzen!
Ja, Sie hat vermutlich der Klapperstrauß fallen lassen.
Wie hatten Sie gesagt?
»Ich meine, Sie sitzen einer Verwechslung auf, denn die Gesellschaft definiert sich nahezu auschließlich inzwischen durch die gemeinsame Abgrenzung, WEIL ihr sonst jede Gemeinsamkeit fehlt. In diesem Sinn ist JEDER für irgendwen ein ANDERER, sei er Kind migrantischer Eltern, selbst Migrant, Homosexuell, Frau, Queer, Impfgegner, Faschist, Verschwörer oder sonstwas ... die Identifikationsangebote schießen ins Kraut und mit ihnen auch die Möglichkeiten und die Notwendigkeit, sich ständig irgendwovon abgrenzen zu müssen, um allein dadurch (!) seine Zugehörigkeit zu etwas anderem (ständig) zu beweisen.«
Und ich denke, so wird’s rund:
»Ich vertrete die These, dass die politische LGBT-Bewegung an eine bestimmte Idee von Gesellschaft gebunden ist, die man neoliberal nennt, dass das Engagement für LGBT als Vehikel dient, bestimmte Ideen des Neoliberalismus über das Individuum gesellschaftlich zu verankern. Das Individuum wird vereinzelt, wird entsolidarisiert, seine Einzigartigkeit wird akzentuiert, und der Einzelne wird bestärkt, diese Einzigartigkeit über Gemeinschaftsinteressen zu heben. GESELLSCHAFT ENTSSOLIDARISIERT SICH.
Der hoch individualisierte LGBT-Mensch passt zum neoliberalen Homo oeconomicus, dem Menschen, der sein Eigeninteresse über alles stellt und sich beständig optimiert, wie eine perfekte Ergänzung. Der LGBT-Mensch passt zur Idee des neoliberalen Ökonomen von Hayek, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur einzelne Individuen, womit er über eine Argumentationskette der Idee der Sozialstaatlichkeit und des Wohlfahrtsstaates eine grundsätzliche Absage erteilt.«
Ich denke, dass dies – exemplarisch gesehen – eine gute Beschreibung dessen ist, was in der neoliberalen Gesellschaft Realität geworden ist.
Mladen Gladić möge mir verzeihen, dass ich mich noch immer nicht NUR und ausschließlich mit dem Thema Migration befasse, sondern seinen Text zum Anlass nehme für eine weitergehende Analyse.
Nein, das stört mich nicht. Gäbe es gar keine Übereinstimmungen, wäre etwas faul. :)
Die Anpassungsfähigkeit gar nicht weniger Einwanderer freut mich ebenfalls nicht. Allerdings sehe ich die ganz ähnlich beim Nachwuchs von Alteingesessenen - ein Pragmatismus und Opportunismus, den ich gut nachvollziehen kann, der aber m. E. nicht das ist, was diese Gesellschaft bräuchte.
Eigenschaften - man wird sie immer finden, aber man wird bei gleichbleibendem Trend auch immer genauer hinsehen müssen.
*****
:))
Bzgl. des Aspektes Migrationshintergrund bin ich auch eine von 21 Millionen (erinnert mich an den Slogan der letztjährigen Proteste in Serbien: Einer von 5 Millionen, der Gladic offensichtlich inspirierte). Politisch eingeordnet bin ich eher eine von 4 Millionen. Was bedeutet das insgesamt?
Ich habe Schwierigkeiten mit der Suche nach dem wahren Begriff. Auch wenn er eines Tages zu aller Befriedigung gefunden würde, ändert sich nichts an den Empfindungen | Erfahrungen | Lebenseinstellungen. Die Frage an jeden Einzelnen ist stets: Wer bin Ich?
In 1. Linie bin ich Mensch, dann Frau | Freundin | Tante | Tochter | Schwester & irgendwann eine mit Migrationshintergrund, der eng mit der deutschen Geschichte verbunden ist. Gäbe es sie nicht, gäbe es mich nicht. Mein Großvater wurde von den Deutschen im 2. WK gefangengenommen & in ein Arbeitslager nach Deutschland verschleppt, später von den Briten befreit. Er blieb in Deutschland, der Kommunismus in Jugoslawien war nicht nach seinem Gusto, die deutschen Frauen schon. Meine Mutter kam als 20-Jährige nach Deutschland, um ihren Vater kennenzulernen, der sich nie um Frau & die beiden Töchter kümmerte. Sie entschuldigte es immer mit dem Kriegsschock, was ich in Gänze nicht nachvollziehen konnte. Hier lernte sie meinen Vater kennen, der aus einem ca. 40 km entfernten Ort von ihrem Heimatort stammte & den sie dort nie kennengelernt hätte. Als Kind habe ich Rassismus & Ausländerfeindlichkeit im Umgang mit meinen Eltern erfahren, z.B. bei der Wohnungssuche. Vor allem mein Vater stand darüber & beschloss eines Tages ein Haus zu bauen. Dieser Mut & Trotz hat mich im Nachhinein beeindruckt & geprägt: O.K. Ihr wollt mich nicht, dann mache ich es auf meine Weise.
Ich selbst habe als Kind in Kita & Schule selten Rassismus & Feindlichkeit aufgrund meiner Herkunft erlebt, im Gegenteil auch viele positive Erlebnisse erfahren. Das mag natürlich auch daran liegen, dass meine Physiognomie keinen Migrationshintergrund vermuten lässt, ich die Sprache sehr gut beherrschte, eine engagierte Schülerin war mit Spaß am Lernen & insgesamt als integrierte Erscheinung bezeichnet werden konnte. Bei den Ämtern sah es schon anders aus, dort saßen noch in den 80-ern verkappte Nazis, die nicht nur anhand ihrer Erscheinung äußerst unangenehm waren. Mit dem Rentnerwechsel war auch dieses Problem zumindest vorläufig obsolet.
Dann kamen die 90-er & auf einmal interessierten sich alle, woher genau ich denn im Grunde kam _ die Frage aller Fragen mit den typischen Antworten:
Deutschland _ Eltern aus Jugoslawien.
Gibt es doch nicht mehr.
Doch.
O.K. Woher genau dort.
Serbien.
Klappe zu | Affe tot.
Es gab in der Zeit & seitdem viele Situationen, die mich aufregten, nervten, wütend machten. Es wurde plötzlich ein Unterschied gemacht, obwohl ich die war, die ich vorher war. Danach war ich nicht mehr ganz die, die ich vorher war, was auch gut ist. Die Erfahrung war insofern hilfreich & wichtig zum Erlangen der Erkenntnis, über den Dingen & Banalitäten stehen zu können. Es kostet Kraft & Beherrschung aber hilft auch ein Stück weit näher zum ICH. Das meint Flegel auch _ glaube ich.
Wichtiger als die Suche nach Begriffen sind MM nach Darstellungen der Empfindungen & Wahrnehmungen über sich & die Anderen, der gangbare Weg des Einzelnen. Möchte er eine Parallelgesellschaft, eine Assimilation oder eine Brücke bauen mit Fundamenten der positiven Erfahrungen beider Hintergründe | Umwelten.
Mag sein, dass bei diesem Thema auch das eine Rolle spielt, was Sie als "subtiler Lobbyismus" bezeichnen.
Dass wir heute lebenden Menschen wenig Aufmerksamkeit und Resonanz erhalten, trifft zu. Klügere Köpfe als ich haben sich darüber Gedanken gemacht - und diese publiziert. Hartmut Rosa etwa.
Sicherlich spielen auch persönliche Motive im Opferwettbewerb eine Rolle, die von Medien und Politik befeuert werden.
In der Hauptsache handelt es sich um ein strukturelles Phänomen. Und Strukturen sind, wie wir immer wieder erfahren, nur schwer und langsam veränderbar. Vom Ranking 'Jeder gegen Jeden' profitieren jene besonders, die finanziellen Nutzen davon tragen. Die Anderen dürfen sich dann mit den Brotkrumen des Jammerns und Wehklagens begnügen.
Wie ich zuvor schon schrieb: das Hamsterrad anhalten, aussteigen, innehalten, nachdenken, Schlüsse ziehen. Nicht bei Erklärungen stehenbleiben. Die können nur der Humus für Veränderungen sein.
»In diesem Sinn ist JEDER für irgendwen ein ANDERER, sei er Kind migrantischer Eltern, selbst Migrant, Homosexuell, Frau, Queer, Impfgegner, Faschist, Verschwörer oder sonstwas ... die Identifikationsangebote schießen ins Kraut und mit ihnen auch die Möglichkeiten und die Notwendigkeit, sich ständig irgendwovon abgrenzen zu müssen, um allein dadurch (!) seine Zugehörigkeit zu etwas anderem (ständig) zu beweisen.«
...
Eigentlich dachte ich, wir wären uns im Grunde einig in unserer Einschätzung hinsichtlich der „Sichtbarwerdung“ bzw. Wahrnemung multipler Subgruppen. – Und eigentlich wollte ich mich auch nicht wirklich umfangreich mit diesem Blog befassen.
Nun zu Ihren Fragen:
Woher der Neoliberalismus kommt und wo er hinwill, ist für meine Betrachtungsweise nicht wichtig. Mein Fokus richtet sich vielmehr darauf, was er mit uns gemacht hat resp. noch immer macht – was er mit uns anstellt.
Ob Sie nun bei Ronald Wilson Reagan, Margaret Hilda Thatcher oder Anthony „Tony“ Charles Lynton Blair beginnen wollen oder woanders, hat für mich, den Bundesrepublikaner, wenig Bedeutung.
Mich interessiert in erster Linie das Ergebnis der Politik des „Parteienkartells aus CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEn“ seit Durchsetzung der AGENDA 2010, der deutschen Variante neoliberaler Gesellschaftsumgestaltung mit Hilfe eines rigide angewendeten Hartz-IV-Regimes und einer rücksichtslosen Prekarisierung von Bevölkerung für einen fragmentierten Arbeitsmarkt, der Deutschland zum Niedriglohnland machen sollte und zu einem Land der schlechtesten Rentenquoten Europas. 20 Jahre Bundesregierungen, die das Lohndumping ermöglichten, die Werkverträge, die Vergabe an Sub-Sub-Sub-Unternehmer und schlussendlich die fast sklavenähnlichen Zustände an deutschen Schlachthöfen, wo die Arbeiter kaum besser behandelt werden, als das Vieh, dass sie verarbeiten sollen.
Auch hierfür hat Politik das Arbeitsvolumen, das sich seit 1960 über all die Jahrzehnte nicht wirklich verändert hat auf nahezu doppelt so viele Schultern verteilt. Seit 1960 mit rund 26 Mio. auf jetzt 45 Mio. Personen und von 56,382 Milliarden Arbeitsstunden in 1960 bzw. auf 61,054 Milliarden Arbeitsstunden in 2018, die ehemaligen DDR-Arbeitskräfte seit 1991 eingeschlossen. Das Ergebnis: Viele Menschen verdienen das Salz in der Suppe nicht mehr. Hierdurch bedingt stieg die zunehmende Anzahl der Erwerbstätigen, die gewollt oder unfreiwillig in Teilzeit arbeiten – darunter vor allem Frauen. Billig-Lohner müssen importiert werden.
Die Politik, die vom besagten Parteienkartell während der letzten 20 Jahre betrieben wurde, hat in Deutschland eine Gesinnung erzeugt, die „gegen alles und jedes hetzt“, auch gegen Migranten und von der die AfD profitiert. Eine "wunderbare" Referenz, die ich zornig erwähne. Ich bemühe in diesem Zusammenhang noch einmal das Beispiel des Sommers 2015, als die Kriegsgeschädigten und Heimatvertriebenen von ihren „eigenen Henkern“ zu Migranten umdefiniert wurden, um ihnen ja keine Hilfe angedeihen zu lassen. Wieviel Schelte musste Frau Merkel für ihre Entscheidung, Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, über sich ergehen lassen. Schließlich musste sie sie für sechs (?) Milliarden Silberlinge an Recep Tayyip Erdoğan verkaufen, und dieser setzt sie jetzt bei seiner völkerrechtswidrigen Annektion syrischen Hoheitsgebietes als lebende Schutzschilde ein.
Angesichts dieser Realität stellt sich mir die Frage nicht mehr »Wann war die Gesellschaft zuletzt solidarisch (wenn sie sich entsolidarisiert, muss sie ja mal solidarisch gewesen sein)?« Idealtypische Strukturen bzw. Situationen gibt es nur wenige im Leben von Menschen.
Der deutsche Staat, eigentlich dazu verpflichtet, ein Gemeinwohl zu organisieren, hat massivst aussortiert, prekarisiert, die Bevölkerung ihrer Besitzstände beklaut. Und wenn es dann doch wichtig ist, die Frage nach der Solidarität zu stellen, dann darf ich an die Gewerkschaften erinnern, denen die Mitglieder wegliefen, da sie und bis sie ihren Solidaritätsauftrag nicht mehr erfüllen konnten – auch und vor allem durch Unternehmensorganisationen, die sich dem Tarifrecht entziehen konnten und können (Outsourcing). Dahinein passt auch:
Von 1991 bis 2010 wurde lt. Böckler Impuls, Ausgabe 03/2012, die Anzahl der Beschäftigen im Öffentlichen Dienst um 1,6 Millionen gesenkt; das sind über 30 Prozent.
Die Regierungen des „Parteienkartells aus CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEn“ haben auch durch das bevorzugende Päppeln multinationaler Konzerne und deren Banken, Bankstern zumal, sowie durch ihre Beteiligung an Kriegen seit Jugoslawien der Gesellschaft Desintegration und Entsolidarisierung übergestülpt – gegen den erklärten Wählerwillen. Aber vielleicht kann man Schicksalsgemeinschaften etwa von Flüchtlingen oder Hartz-IV-Beziehern ja auch als Beleg für mehr Solidarität (untereinander) begreifen, so wie man Kriegsflüchtlinge bei Bedarf ja auch gerne als Migranten begreift.
…
Abschließend noch eine Bemerkung zu „Homo oeconomicus“: Nach meiner Überzeugung kommt Mensch schlechterdings als solcher auf die Welt, ansonsten brauchte sich Gesellschaft nicht so viele Gedanken dazu zu machen, wie man ihn und für was man ihn „sozialisiert“, was immer das auch heißen mag.
»Die Frage an jeden Einzelnen ist stets: Wer bin Ich?«
Aber es ist zugleich auch die Frage jedes Einzelnen an sich selbst! Was, denken Sie, ist wohl das herausragende Thema für psychotherapeutisch/fachliche Begleitung in entsprechenden psychotherapeutischen Settings?
Ich finde Ihre Darstellung und Ihren Standpunkt sehr gescheit – und sehr gesund.
Ja, ich habe es missverständlich ausgedrückt_ aber genau das meine ich. ´Wer bin ich´ in der Geschichte | Gesellschaft | Politik etc. wäre die Fortsetzung.
Ich hoffe, dass in meiner Darstellung auch rüberkam, dass ich mir bewusst bin, dass Menschen mit einer anderen Physiognomie, Hautfarbe, Bewusstsein, sex. Orientierung etc. vielfach stärkere Abneigung erfahren & ich mit meinen Erfahrungen andere, weitaus prägendere & heftigere nicht relativieren möchte.