Lesen nicht vergessen

Literatur Die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse stehen fest. Dann kann ja nichts mehr schief gehen
Ausgabe 07/2020
Blick auf das Wesentliche – dank Buchpreis. Oder eben doch nicht? Wie dem auch sei, der Literatur ist es dienlich
Blick auf das Wesentliche – dank Buchpreis. Oder eben doch nicht? Wie dem auch sei, der Literatur ist es dienlich

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Nominierungen für Buchpreise machen vor allem anderen einen Vorschlag zur Komplexitätsreduktion. Angesichts einer Branche, die aus vollen Rohren massenweise Gedrucktes auf das Lesepublikum abfeuert, besteht ihr Vorteil darin, dass jemand anderes aus der großen Unübersichtlichkeit von Gedrucktem das Wesentliche herauspickt. Oder herauszupicken vorgibt. Das ist, so oder so, gut für die Literatur, weil solche Verknappung die Wahrscheinlichkeit steigert, dass mehr Menschen über weniger Bücher sprechen. Anstatt sich gegenseitig Texte nachzuerzählen, die nur einer gelesen hat, kann man gemeinsam über Bücher sprechen, die man zumindest aus der Zeitung kennt.

Vorteile haben Jury-Entscheidungen vor allem auch für Literatur-Redaktionen. Ächzt man doch besonders hier unter Auswahlproblemen. Und unter massenweise verlangt und unverlangt eingesandten Büchern, die sicher bei mancher oder manchem schon den Wunsch weckten, mal ein paar Regale zur Rezension zu bestellen.

Vorteile auch für die zählende Zunft

Weil aber jede Auswahl eine Auswahl aus einer großen Menge von Büchern darstellt, die es nicht in die Auswahl geschafft haben, erregt sie zwangsläufig Widerspruch. Was fehlt auf der Liste, warum hat Autorin X oder Autor Y es nicht verdient, auf der Liste zu stehen, was erlauben Jury? Auch das ist von Vorteil für die Literatur, weil nun Leute darüber reden, was eigentlich die Kriterien guter Literatur sind. Die Distinktionsgewinne, die gerade auch professionelle Leser damit einfahren können, wenn sie kritisch oder affirmativ über Jury und Jury-Auswahl diskutieren, sind als Anreiz nicht zu unterschätzen, sodass das Ganze ein Selbstläufer ist. Für Leserinnen und Leser. Für die Literatur.

Vorteile hat auch jene neue Spezies unter den Buchmarktbeobachtern, die in der jüngeren Zeit in Verlagsvorschauen weniger Literatur als ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis suchte. Denn die Nominierungsliste ermöglicht die schnelle Orientierung, wie es um die Genderbilanz bestellt ist, nachdem eine Jury einen Vorschlag unterbreitet hat, wie die Spreu vom Weizen getrennt werden könnte.

Also zunächst die Statistik zu Jury und Nominierten des diesjährigen Preises der Leipziger Buchmesse: Eine Jury aus vier Frauen und drei Männern hat 15 Bücher nominiert. In der Kategorie „Belletristik“ finden sich drei von Autoren und zwei von Autorinnen, in der Kategorie „Sachbuch und Essayistik“: das gleiche Bild. Bei den Übertragungen wird es schwieriger, hier geht es zwar vor allem um die Übersetzerinnen und Übersetzer, die aber natürlich Autorinnen oder Autoren übersetzt haben. Bleibt man bei Ersteren, steht es da ebenfalls drei zu zwei.

Und die Bücher? Nominiert sind Verena Güntner für Power (DuMont), einen Roman über ein Dorf im Ausnahmezustand, nachdem sämtliche Kinder verschwunden sind und Maren Kames für ihren Gedichtband Luna Luna (Secession). Leif Randts Roman Allegro Pastell (KiWi) über eine Fernbeziehung zweier Kreativer ist genauso dabei wie Ingo Schulze, der schon 2007 einmal den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, mit seiner Geschichte über einen Dresdner Buchhändler, der ins Wutbürgerliche abdriftet, Die rechtschaffenen Mörder (Fischer) und Lutz Seiler für Stern 111 (Suhrkamp), in dem es um die Emigration der Eltern nach dem Mauerfall geht. Der Soziologe und Kursbuch-Herausgeber Armin Nassehi ist für Muster (C. H. Beck) nominiert, eine Theorie der digitalen Gesellschaft, FAZ-Redakteur Michael Martens könnte den Preis für seine Biographie des großen jugoslawischen Chronisten und Romancier Ivo-Andrić (Zsolnay) erhalten. Der Leipziger Verleger Jan Wenzel hat mit der Textcollage Das Jahr 1990 freilegen (Spector) im eigenen Verlag eine Chronik des weniger bekannten „Wendejahres“ vorgelegt, unter anderem mit Originalbeiträgen Alexander Kluges, Kunsthistorikerin Julia Voss’ Hilma-af-Klint-Biografie (Fischer) ist ebenso im Rennen wie Bettina Hitzner mit ihrer „Emotionsgeschichte“ Krebs fühlen (Klett-Cotta).

In der Sparte „Übersetzung“ finden sich zwei absolute Klassiker, George Eliots Middlemarch, übersetzt von Melanie Walz, und Baudelaires Spleen von Paris, übertragen von Simon Werle (beide Rowohlt). Eine Wiederentdeckung ist Oreo von Fran Ross aus den 1970er Jahren, die Geschichte einer jungen Frau mit schwarzer Mutter und jüdischem Vater, übersetzt aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann (dtv). Aus dem Bulgarischen hat Andreas Tretner den Roman Die Sanftmütigen über die „Volksgerichte 1944/45“ von Angel Igov für den eta Verlag ins Deutsche übertragen und Luis Ruby aus dem brasilianischen Portugiesisch Clarice Lispectors Sämtliche Erzählungen I: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau (Penguin).

Na, denn mal losdiskutiert, kritisiert, ergänzt, verworfen! Aber das Lesen bitte nicht vergessen. Denn das ist für die Literatur das Wichtigste.

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