Das könnte von dem Bestellerautor Peter Wohlleben stammen: „Wir verschmutzen die Flüsse und die Grundbestandteile der natürlichen Dinge und wenden zum Verderben genau das, wovon wir leben.“ Doch die Einsicht, mit dem Raubbau an der Natur an dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen, stammt nicht aus Das geheime Leben der Bäume. Auch nicht von der 16-jährigen Klima-Aktivistin Greta Thunberg, die den Nobelpreis kriegen könnte. Sie stammt von Plinius dem Älteren, der im Jahr 79 beim Vesuv-Ausbruch starb.
Führt der Weg zum nachhaltigen Umgang mit der Welt, in der wir leben, zurück zu „Mutter Natur“? Zu einem vormodernen Weltbild also? Glaubt man Karl-Heinz Göttert, Autor zahlreicher Bücher zur Rhetorik, zu Luther, zur mittelalterlichen Epik und zur Magie der Frühen Neuzeit, rückt der „Hype“ um das nature writing à la Wohlleben vor allem „die nie aufgegebene Vermutung“ in den Blick, „dass der zivilisatorische Fortschritt in eine Sackgasse führte“.
Schnöde Kulturkritik also? Mitnichten. Zwar steht er fest auf der Seite Francis Bacons, der in seinem Novum Organon 1620 einen Generalangriff auf das überkommene Denken führte. Ein Adornisieren, das uns noch einmal erklärt, wie Naturbeherrschung zwar vom mythischen Denken befreit habe, selbst aber in Mythos umschlage, ist Götterts Ansatz nicht. Als Philologe, der im Wortsinn eine Liebesbeziehung zu dem pflegt, was er untersucht, würdigt er zuerst seinen Gegenstand: „Mutter Natur“ war keine schlechte Idee, schreibt Göttert, sondern „ein Lehrbeispiel für die Stärke eines Denkens, an dem mehrere Kulturen – die klassisch-antike, die arabische und die der christlichen Nationen – mitgewirkt haben“. Ein Denken, das Göttert umfassend nachzeichnet. Das beginnt bei der Lehre von Mikro- und Makrokosmos in Platons Timaios und geht weiter mit Aristoteles’ Überzeugung, die die Wissenschaft erst von der Philosophie scheidet, wonach an der Erforschung des Einzelnen anzusetzen ist. Göttert rekapituliert Aristoteles’ Methode, Beobachtung und Versuch, die auch Bacon als einzigen Weg zur Erkenntnis sah: „Man weiß, dass er dazu Tiere abmagern ließ, um sie dann zu ersticken, weil auf diese Weise die Adern besser abzutasten waren.“ Er würdigt Theophrasts Botanik und Mineralogie, Plinius’ enzyklopädische Naturgeschichte, das medizinische Forschen bei Hippokrates und Galen.
Aber lehrte Plinius nicht, dass der Adler sein beliebtestes Opfer, den Hirsch, dadurch überwältige, dass er sich auf dessen Geweih setze und ihm Staub in die Augen streue? Und ist nicht selbst der Hippokratische Eid – „Auch werde ich ... keiner Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben“ – heute hoffnungslos veraltet? Veraltet, falsch vielleicht, aber in der Antike entstand ein Denken, das sich, anders als die ägyptische Hochkultur, wo Zauber als Erklärung der Natur herrschte, vom Magischen ab- und den Dingen zuwandte.
So heilt Gott? Bitte nicht
Fast jedenfalls. Denn die Signaturenlehre, die aus den Äußerlichkeiten der Naturdinge auf ihre innere Verwandtschaft schließt, floriert in der gesamten Vormoderne. Selbst bei Plinius treiben solche „Sympathien“ ihr Spiel, und noch im 16. Jahrhundert glaubt der Arzt und Alchemist Paracelsus: „Das Farnkraut etwa dient deshalb zur Heilung bei Stichwunden, weil es durchstochene Blätter hat.“ Schon ein paar Jahrhunderte vorher war Hildegard von Bingen, die mit ihrem enzyklopädischen Wissen von der Heilkraft der Pflanzen den Alternativmedizinern von heute als Vorbild gilt, überzeugt: „Verzögert sich die Menstruation, hilft der rote (Beifuß), der den Blutfluss in Gang bringt, dauert die Menstruation zu lange, hilft der weiße, der den Blutfluss stoppt.“
Dem Philologen Göttert ist eine heutige „Hildegard-Medizin“, die mit Titeln wie So heilt Gott lockt, ein Graus. Hier werde „eine sinnvolle Erhaltung von Bewährtem durch die Verdächtigung jedweden Fortschritts ersetzt, als hätte die Menschheit die kampfeslustige Polarisierung von Natur und Technik nicht schon öfter in ihrer Unfruchtbarkeit, ja Unsinnigkeit erlebt“, meint er.
Aber mehr noch: Ob im platonischen Sinne einer Korrespondenz von Groß und Klein, im aristotelischen einer „großen Verkettung der Dinge“, der heidnischen Signaturenlehre oder im christlichen Allegorisieren, das die Schöpfung als Offenbarung Gottes lesbar machen will: Für Karl-Heinz Göttert krankt die Vormoderne daran, dass sie der Natur einen Sinn ablauschen und sie in ein theoretisches Korsett zwängen will, das sie gründlich verkennt.
Göttert begrüßt zwar den „Hype“ um die Natur im Blätterwald, versteht sein gelehrtes und vielleicht stellenweise ein wenig ausschweifendes Buch aber als Warnung. Denn „es wäre mehr als bedenklich, ohne nähere Kenntnis um die Folgen an dasjenige erneut anzuschließen, was die Moderne glücklich überwinden konnte“.
Info
Als die Natur noch sprach. Mensch, Tier und Pflanze vor der Moderne Karl-Heinz Göttert Reclam 2019, 390 S., 30 €
Should I stay or should I go
Kommt der Brexit, wird auch Nordirland die Europäische Union verlassen müssen. Die offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland war eine grundlegende Bedingung des Friedensabkommens von 1998, nach mehr als 30 Jahren „Troubles“, blutigen Konflikten zwischen Katholiken und Protestanten. Die offene Grenze würde mit dem Brexit zur harten EU-Außengrenze, was den fragilen Friedensprozess im Land gefährden könnte. Der 1977 in Esslingen geborene Toby Binder fotografierte für Wee Muckers. Youth of Belfast (Kehrer 2019, 120 S., 35 €) Teenager aus protestantischen und katholischen Vierteln in Belfast. Die Langzeitdokumentation zeigt die Allgegenwart von Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität und Gewalt, die Jugendliche in Belfast schon heute belastet, egal, auf welcher Seite der „peace wall“ (Friedensmauer) sie leben.
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