Identitäspolitik und Klassenkampf

Innerlinke Debatte Der Kampf gegen Unterdrückung und der Kampf gegen Ausbeutung werden nicht erst seit Sahra Wagenknecht gegeneinander ausgespielt, doch Arbeiter*innen brauchen in erster Linie Verbündete und keine Feinde in den eigenen Reihen.

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Gerade jetzt, wo die Spaltung der Linkspartei vollzogen ist und der neue Verein Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) seine Pläne für ein konkurrierendes Parteiprojekt vorbereitet, stellt sich für viele politisch Aktive wieder die Frage, wie linke Politik massentauglich werden kann. Dass es ausgerechnet in Zeiten von Krieg und Krise zu Zerwürfnissen und Trennungen im linken Lager kommt, ist fatal und spielt der Rechten in die Hände. Doch Einigkeit kann nicht erzwungen werden. Sind die inhaltlichen Differenzen zu groß, ist eine Spaltung unvermeidlich, womöglich sogar notwendig, um überhaupt noch handlungsfähig zu sein. Es reicht nicht formal zusammen zu arbeiten, wenn alle in unterschiedliche Richtungen rennen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es unter Wagenknechts ehemaligen Parteigenoss*innen nicht nur Verzweiflung über die Rückschläge der Linken und den Verlust von Mitgliedern und Abgeordneten gibt, sondern auch Aufatmen und die Hoffnung auf einen Neuanfang. Tatsächlich verzeichnet die Linke aktuell nicht nur Austritte, sondern eine Welle von Neueintritten (Linkspartei: 500 Linksradikale treten in Die Linke ein | nd-aktuell.de). Spaltungen können also auch Chancen sein. Dennoch bleibt die Frage: Was tun? Die Fehler und Versäumnisse der Linken verschwinden nicht mit Sahra Wagenknecht. Die Linke verliert seit Jahren an Bedeutung und schneidet miserabel in Umfragen ab. Gleichzeitig gewinnt die AfD Stimmen dazu und die Zahl der Nicht-Wähler*innen macht nachdenklich.

Politik für das Proletariat

Sich von der Arbeiter*innenklasse abgewandt zu haben, war einer der Vorwürfe, die Wagenknecht gegen ihre ehemalige Partei erhoben hatte und dieser Vorwurf scheint nicht ganz unbegründet. Die Linke setzt eher auf Regierungsbeteiligung und hofft in der Verwaltung des Staates etwas bewirken zu können, statt eine laute, radikale Opposition gegen den unsozialen Kurs der pro-kapitalistischen Parteien zu bilden. Die Rolle der oppositionellen Kraft eignet sich gerade die AfD, eine rechtsradikale Partei an, eine Tatsache, die umso mehr nach linken Alternativen schreit. Auch hat die Linke in Regierungsverantwortung wichtigen sozialen Bewegungen vor den Kopf gestoßen, wie der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“, durch die Mitschuld am Hinauszögern der Beschlussumsetzung (Interessant ist, dass schon die PDS in der rot-roten Koalition der Nullerjahre Privatisierungen von Wohnraum und Krankenhäusern in Berlin mitgetragen hatte). Hat Sahra Wagenknecht also recht und die Linke betreibt keine Politik im Sinne der arbeitenden Bevölkerung? Da mag etwas dran sein, doch sieht es bei ihr selbst besser aus?

Sahra Wagenknecht äußert sich tatsächlich offen für Koalitionen mit pro-kapitalistischen Parteien, selbst mit der rechtskonservativen CDU, scheut sich im Gegensatz zur Linken nicht, Spenden von Unternehmen anzunehmen und bietet hin und wieder auch recht interessante Antworten auf die Wohnungsfrage. Neben der Spekulation darüber, unter welchen Bedingungen Geflüchtete ihr „Gastrecht“ hierzulande behalten dürfen, äußerte sie bereits ihre Sorge um zu viel Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt durch Masseneinwanderung. Schuld an den Problemen auf dem Wohnungsmarkt scheinen also nicht Wohnkonzerne und ihre Wucherpreise zu sein, der jahrelange Leerstand, durch die Nutzung von Häusern als reine Kapitalanlage, und die Unfähigkeit der Regierung in bezahlbaren Wohnraum zu investieren, oder besser noch, vorhandenen Wohnraum zu verstaatlichen, sondern Migrant*innen. Friedrich Merz fiel noch vor einem Jahr mit der Aussage auf, er heize in seiner Berliner Wohnung und seinem Haus in Arnsberg nur Räume, die er auch nutzt. Zu wenig Wohnraum für Deutsche und Migrant*innen scheint nicht das Problem zu sein, sondern Reiche, die diesen für sich beanspruchen und Immobilienkonzerne, die die Mieten in astronomische Höhen treiben.

Doch es ist leider ein gängiges Muster bei Wagenknecht und ihren Anhänger*innen, die Schuld bei unterdrückten Gruppen zu suchen, oder diejenigen zu kritisieren und der Identitätspolitik zu bezichtigen, die sich für diese einsetzen. Auch wenn es um die Belange von queeren Menschen geht, sehen Linkskonservative aus dem Wagenknecht-Lager darin eine Ablenkung von den eigentlichen Interessen der Lohnabhängigen. Dabei sind die Mehrheit der Queeren ebenfalls lohnabhängig, gehören also zur Arbeiter*innenklasse, und ihre Unterdrückung hat System im Kapitalismus. Ihre Belange sind nicht imaginierte Luxusprobleme skurriler Minderheiten, erst recht nicht, wenn sie aufgrund ihres Coming-Outs ihren Job verlieren, oder wenn sie in prekären Verhältnissen arbeiten, da sie sonst keine Stelle finden. Auch dann nicht, wenn sie tagtäglich gegen die patriarchale Ordnung kämpfen, die einen der Grundpfeiler des Privateigentums bildet und eng mit der kapitalistischen Produktionsweise verwoben ist. Die Entstehung des Privateigentums führte historisch zur allerersten Arbeitsteilung, der zwischen den Geschlechtern, und den darauffolgenden Klassengesellschaften. Auch heute noch ist patriarchale Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen ein allgegenwärtiger Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft. Darüber hinaus werden aktuell queere, insbesondere trans Personen von der politischen Rechten zum Feindbild erkoren, was zur Folge hat, dass die Bevölkerung weiter gegen die ohnehin schon Unterdrückten vorgeht, statt ihre Wut gegen den Kapitalismus zu richten.

Statt also die Konkurrenz zwischen Arbeiter*innen zu verstärken, in dem sie gegeneinander ausgespielt werden, sollten sich Linkskonservative endlich mit der gesamten Arbeiter*innenklasse solidarisieren. Um eine starke Kraft gegen das Kapital zu bilden, müssen wir vereint kämpfen. Ausbeutung und Unterdrückung sind zwar unterschiedlich stark, je nach Pass, Herkunft, sexueller Orientierung und Geschlecht, doch dennoch eine universelle Erfahrung für alle Lohnabhängigen, weshalb sie ein gemeinsames ökonomisches Interesse an der Überwindung dieser Zustände haben. Arbeiter*innen brauchen in erster Linie Verbündete und keine Feinde in den eigenen Reihen. Ressentiments zu schüren, wird ihnen nicht helfen. Erst vereint haben wir die Chance, z. B. durch Streiks, genug Druck von unten aufzubauen, um unsere Forderungen auch dann durchzusetzen, wenn sich Arbeitgeber*innen und Regierungen, aus Angst um Profite, dagegen wehren. Im Kapitalismus wird uns schließlich nichts geschenkt. Darum sollten wir denen, die uns ausbeuten, nicht das Geschenk machen, uns gegenseitig zu bekämpfen und das eigentliche Problem aus den Augen zu verlieren. Sahra Wagenknechts Angst vor der Ablenkung von den Interessen der Lohnabhängigen scheint sehr real zu sein. Fragt sich nur, ob sie nicht auch zu dieser Ablenkung beiträgt. Zumindest scheint sie mittlerweile an einem Punkt zu sein, wo sie die ökonomischen Verhältnisse, die den Arbeiter*innen zu schaffen machen, auch nicht stärker angreift als die Partei, die sie verlassen hat. Ihre zum Teil berechtigte Kritik am Kurs der Linken führt schon lange nicht mehr zu einer klassenkämpferischen Politik ihrerseits. Ganz im Gegenteil. Die Überwindung des Kapitalismus gehört scheinbar nicht zu den Grundsätzen ihres Bündnisses, oder ihrer zukünftigen Partei, sondern lediglich die leere Forderung nach „wirtschaftlicher Vernunft“. Ihre Kritik an Identitätspolitik in Ehren, aber Klassenkampf betreibt sie auch nicht. Das überrascht jedoch nicht, besonders wenn man sich die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung anschaut. Diese ist nicht nur von einem solidarischen Miteinander gekennzeichnet und immer wieder versuchten reformistische Kräfte einzelne Arbeiter*innen auseinander zu treiben.

Historische Kontinuität

Tatsächlich hat der Scheinwiderspruch zwischen Klassenkampf und den Interessen der besonders Unterdrückten in der Arbeiter*innenbewegung eine gewisse Tradition. So trat schon der Revisionist Ferdinand Lassalle für traditionelle Geschlechterrollen und gegen die Erwerbsarbeit von Frauen ein, da er befürchtete, Frauen in Niedriglohnverhältnissen, seien eine Gefahr für die Arbeiter*innenklasse. Wieder sei die verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt das Problem. Dabei würde die Forderung nach höheren Löhnen für Frauen tatsächlich der gesamten Arbeiter*innenklasse nützen. Durch unter-, oder gar unbezahlte Care-Arbeit können nämlich Löhne insgesamt gedrückt werden, da die Reproduktionskosten der Arbeitskraft, vor allem der Teil der Reproduktionskosten, der aus Dienstleistungen besteht, sinken. Lohn und Lohnzusatzkosten werden so also niedrig gehalten. Nützlich für die Arbeiter*innenklasse und schlecht für das Kapital wäre gerade die Solidarisierung mit Frauen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne in typisch weiblichen Branchen. Die notwendige Zusammenführung des sozialistischen und feministischen Kampfes und die Einheit des Proletariats sowie die Bildung einer Internationale verstand schon die frühe Sozialistin Flora Tristan, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die erste Internationale, die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), wurde schließlich 1864 gegründet. Frauen durften jedoch erst 1865 Mitglied werden.

In den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es erneut zu Spannungen zwischen den Bewegungen unterdrückter Gruppen und der Arbeiter*innenbewegung. Spätestens seit den 70er Jahren kam dann der Begriff der Identitätspolitik vermehrt auf, damals noch positiv konnotiert. Die Unterdrückten, die es Leid waren, dass ihre Belange ignoriert wurden, organisierten sich zunehmend anhand von Identitätskategorien, wie Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnie und nationaler Herkunft. Die Radikalfeministinnen dieser Epoche stellten etwa den Geschlechtergegensatz ins Zentrum ihrer Analyse und politischen Aktion und zogen sich mehr und mehr aus der sozialistischen Bewegung zurück. Shulamith Firestone, eine der Begründerinnen des US-amerikanischen Radikalfeminismus, riet Frauen sich ohne Männer zu organisieren und sich ganz der feministischen Sache zu widmen, ohne jedoch den Sturz des Kapitalismus aufgegeben zu haben.

Die identitätspolitischen Analysen, die in dieser Zeit entstanden, vermochten oft die tatsächlich erlebten Erfahrungen Unterdrückter, vor allem mehrfach Unterdrückter, akkurat zu beschreiben und gaben den Lebensrealitäten dieser Menschen die Aufmerksamkeit, die sie anderswo vermissten. Identitätspolitik bildete aber zugleich die Grundlage vieler liberal-feministischer, -queeraktivistischer und -antirassistischer Strömungen, welche sich in den darauffolgenden Jahrzehnten verfestigten. Der Klassenkampf, aus dem die Unterdrückten immer wieder ausgeschlossen wurden, wirkte wie ein Relikt der Vergangenheit, der Marxismus schien überholt. Man wünschte sich neue Theorien, die die Ungerechtigkeit im Kapitalismus erklärten und neigte in der neoliberalen Gesellschaft zu individualistischen Lösungsansätzen. Identitätspolitik, die verschiedene Lebensrealitäten oberflächlich korrekt beschreibt, scheitert oft an der Erklärung der Ursachen von Unterdrückung. So sieht die Privilegientheorie von Peggy McIntosh den Grund für Unterdrückung in einer ungerechten Verteilung von Zusatzprivilegien. Jeder Mensch besitzt demnach ein individuelles Maß an gesellschaftlichen Vorteilen und Benachteiligungen, je nachdem welchen Identitäten er angehört. Durch die Reflexion über die eigenen Privilegien und den kritischen Diskurs, sollen diese nach und nach aufgebrochen werden. Das Materielle gerät in den Hintergrund. Gleichzeitig verschleiert die Verschiebung des Fokus weg von der besonderen Unterdrückung, die bestimmte Teile des Proletariats erleben, hin zu vermeintlichen Privilegien der anderen, die eigentlichen Machtverhältnisse im Kapitalismus. Es ist wahr, Arbeiter*innen, die neben ihrer Ausbeutung nicht noch von Rassismus, Sexismus, oder anderen -ismen betroffen sind, haben es im Vergleich zu jenen, die darunter leiden, besser, doch die gesellschaftliche Macht liegt nicht bei ihnen, sondern bei der herrschenden Klasse. Auch ist fraglich, inwiefern das bessere Los bestimmter Arbeiter*innen als Privileg bezeichnet werden kann.

Schaut man sich erneut das Beispiel des Wohnungsmarktes an, werden die Grenzen dieser Analyse deutlicher. Ist es etwa ein Privileg, wenn ein männlicher Arbeiter mit deutschem Pass schneller eine Wohnung findet als eine Arbeiterin mit ausländischer Staatsbürgerschaft? Ja, wenn Ziel ist, seine Stellung lediglich in Relation zur ausländischen Arbeiterin auszudrücken. Aber ist die Bezeichnung Privileg tatsächlich zutreffend, wenn es darum geht, schneller eine ohnehin überteuerte Wohnung auf einem ohnehin unsozialen Wohnungsmarkt zu finden, wenn Wohnraum doch sowieso vergesellschaftet und allen, ohne hohe Kosten, zugänglich sein sollte? Es scheint, Privileg trifft es nicht ganz und redet das eigentliche Problem klein. Statt ein Privileg zu sehen, während die Zustände für beide übel sind, sollte die besondere, zusätzliche Unterdrückung der ausländischen Arbeiterin in den Blick genommen werden, ohne ihrem männlichen, deutschen Kollegen in dieser Situation eine Macht zuzusprechen, die er nicht hat. Beide werden ausgebeutet und von Kapitalist*innen und Grundeigentümer*innen unterdrückt, doch die ausländische Arbeiterin erleidet eine noch schwerwiegendere Unterdrückung. Sie ist in erster Linie schlechter gestellt, ihr Mitstreiter nicht in erster Linie bessergestellt. Ihr wird viel mehr etwas genommen, als dass ihm etwas gegeben wird. Bei den unmenschlichen Zuständen auf dem Wohnungsmarkt und den unverschämten Mietpreisen, kann nicht die Rede davon sein, dass der eine sich auf seinen Privilegien ausruht und der anderen schadet. Die Macht liegt nicht beim weniger unterdrückten Arbeiter, sondern beim Vermieter. Die Schuld für die prekäre Lage auf dem Wohnungsmarkt liegt demnach ebenfalls bei den Grundeigentümer*innen und dem Staat, der sie schützt, und nicht bei Mieter*innen verschiedener Herkunft. Was wir brauchen, ist weder Hetze gegen Ausländer*innen, noch das Übertragen der Verantwortung für die Situation auf diejenigen, die das bessere Los unter den gleichen Verhältnissen haben, sondern der gemeinsame Kampf gegen diese Verhältnisse.

Gemeinsamer Klassenkampf

Der Kampf gegen Unterdrückung und der Kampf gegen Ausbeutung werden also nicht erst seit Sahra Wagenknecht gegeneinander ausgespielt. Wo die einen vor ökonomischem Reduktionismus warnen, fürchten die anderen eine Ablenkung der Arbeiter*innenklasse, durch die Beschäftigung mit scheinbaren Nebenwidersprüchen. Die Wahrheit ist: Ausbeutung bedingt Unterdrückung und Ausbeutung braucht Unterdrückung, um effektiv zu funktionieren. Dies zeigt sich nicht nur am bereits genannten Beispiel der Care-Arbeit. Überall da, wo Arbeiter*innen für kapitalistische Interessen, aufgrund ihrer Identität, hierarchisiert werden, oder wo bestehende Unterdrückungsverhältnisse weiter ökonomisch ausgenutzt werden, wird der Klassenwiderspruch deutlich. So profitiert die herrschende Klasse etwa, wenn Migrant*innen schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen, weil sie ohne Arbeitsverhältnis ihren legalen Aufenthalt verlieren, oder wenn Gastarbeiter*innen unter Mindestlohn beschäftigt werden. Nicht-migrantische Arbeiter*innen sollten sich in diesen Fällen mit ihren migrantischen Kolleg*innen solidarisch zeigen, aus Mitgefühl genauso sehr wie aus eigenem Interesse, denn wo Kapital und Kapitalist*innen profitieren, verlieren die Lohnabhängigen, und umgekehrt.

Dass die Ungleichheit innerhalb der Arbeiter*innenklasse mit rassistischen und sexistischen Zuschreibungen und Ressentiments gerechtfertigt und somit abgesichert wird, beweist, dass der Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit, nicht ohne den Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse angegangen werden kann. Es beweist auch, dass der Kampf gegen ebendiese Verhältnisse, nicht um eine Analyse der verschiedenen konkreten Ausprägungen der Ausbeutung und der spezifischen Probleme aller Teile des Proletariats auskommt. Dies erfordert die Organisierung anhand der Klassenzugehörigkeit, da das Proletariat ein gemeinsames ökonomisches Interesse am Ende der Ausbeutung hat. Auch besitzt es aufgrund seiner Stellung im Produktionsprozess und seiner Größe, eine ungeheure Macht, wenn es kollektiv gegen das Kapital vorgeht. Gleichzeitig müssen aber die Identitäten, die im Kapitalismus entstehen und die Lebensrealität der Ausgebeuteten divers ausdifferenzieren, anerkannt werden, was einen zusätzlichen, besonderen Fokus auf verschiedene Unterdrückungsformen im Gesamtkontext kapitalistischer Klassenverhältnisse erdordert. Die Identität darf also weder zum Selbstzweck werden, noch darf die Analyse von Unterdrückung bei einer oberflächlichen Beschreibung alltäglicher Erfahrungen stehen bleiben, ohne nach den materiellen Ursachen zu fragen. Die Benennung der kapitalistischen Produktionsweise und des Klassenwiderspruchs als Fundament der kapitalistischen Gesellschaftsordnung muss nicht zu einer monolithischen Betrachtung der Art und Weise, wie sich dieser Widerspruch äußert, führen.

Die Arbeiter*innenklasse besteht zum großen Teil aus mehrfach Unterdrückten. Es gibt keinen archetypischen Arbeiter, der männlich, weiß und deutsch ist, weder in Deutschland und erst recht nicht anderswo. Die Arbeiter*innenklasse als Kollektiv profitiert vom ökonomischen und politischen Kampf gegen das Kapital, also auch gegen dessen unterdrückerische Tendenzen. Somit ist die Aufarbeitung eigener Ressentiments und die Sichtbarmachung verschiedener Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für ein geeintes Vorgehen der Ausgebeuteten. Identitätspolitische Ansätze, die vor allem auf eine Verbesserung innerhalb der gegebenen Verhältnisse abzielen, wie mehr Diversität und Inklusion, haben durchaus ihre Berechtigung, greifen aber zu kurz, wenn Unterdrückung jemals vollständig überwunden werden soll. Vor allem Maßnahmen, die auf eine inklusivere Gestaltung der Führungsebene abzielen, etwa durch Quoten, sind eher schlecht geeignet, um echte gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Selbst wenn diese Maßnahmen nicht per se abzulehnen sind, wird auch eine diversere Führungsebene weder an der Ausbeutung im Kapitalismus noch an seiner inhärenten Tendenz zur Unterdrückung etwas ändern. Der Kampf gegen Unterdrückung darf daher kein reformistischer sein, der sich mit dem System versöhnt und er darf auch nicht die Klassenfrage außer Acht lassen. Weder Linksliberale, noch Linkskonservative, wie Sahra Wagenknecht, haben den Ausgebeuteten und Unterdrückten viel zu bieten. Erst der solidarische Klassenkampf, der unsere gemeinsamen Interessen und unsere verschiedenen Erfahrungen zusammendenkt, wird die Schlagkraft haben, die wir brauchen, wenn wir die Verhältnisse wirklich umstürzen wollen.

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