Nur eine Tasse Tee

Liebe Servicewüste Deutschland

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Eigentlich ist es unerklärlich, dass Aachen mal so wichtig war. Karl der Große, Heiliges Römisches Reich, Krönungsort der Kaiser, und das alles in einer Stadt ohne Fluss. Ich bin nur ein paar Tage hier und kann deshalb nicht feststellen, ob sich das Nichtvorhandensein eines Wasserlaufs negativ auf die Romantikfähigkeit der Aachener auswirkt, kann mir aber durchaus vorstellen, dass die fehlende Möglichkeit, an etwas auf und ab zu schlendern, das gänzlich und offensichtlich unabhängig und unbeeindruckt von Sorgen, Plänen, Träumen und anderem menschlichen Schabernack geradewegs in die Nordsee oder das Schwarze Meer fließt, aufs Gemüt schlägt.

Die stolzen Einwohner Aachens behaupten, zumindest einen Bach zu haben. Als ich in die Straße kam, wo dieser angeblich fließt, habe ich ihn erst nicht erkannt, dann musste ich lachen. Ein Rinnsaal wie ein Abwasserkanal fließt zwischen Straße und Trottoir nach irgendwo, jedenfalls in kein Meer. Kein Wunder, dass sich die Römer den Germanen überlegen fühlten, als sie das sahen.

An diesem Möchtegernvenedig liegt das Café Einstein, das gerade recht kam, um meine vom deutsch-belgisch-niederländisch grenzüberschreitenden Wandern müden Füße auszuruhen. Außerdem verspricht der Name eine Ansammlung von Genies und Intellektuellen. Wenigstens ist es keines dieser nervigen Lokale, die Besucher mit schiefen, dafür aber umso lauteren Tönen beschallen. Es ist eher eins, wo verkappte Genies an wackeligen Tischen bei einem Bier über alles von Alemannia Aachen bis zur Rolle der Tuberkulose in der sowjetischen Literatur diskutieren.

An einem der anderen Tische vor dem Café saß, ebenfalls allein, eine Dame und orderte eine Tasse Tee. Das war ein durchaus nachvollziehbarer Wunsch, denn an diesem letzten Juliabend hatte es deutlich abgekühlt, und die ansonsten ubiquitäre Wetterjammerei blieb nur deshalb aus, weil die Menschen in den Wochen zuvor zu spüren bekommen hatten, dass die globale Erwärmung nicht nur für Inselbewohner vor der Küste Bangladeschs tödlich sein würde, was, wenn man ehrlich ist, den meisten hierzulande ziemlich egal ist, sondern dass sie sich jetzt erdreistet, auch für die Bewohner Mitteleuropas unangenehm zu werden.

Vielleicht war der Dame auch kühl, weil sie nur ein Kleid trug, ein sehr elegantes, gar nicht aufdringliches, aber dafür umso attraktiveres. Wie eine Schauspielerin sah sie aus, aber sie war keine, zumindest keine bekannte, denn wenn ich sie schon einmal gesehen hätte, so hätte ich mir ihren Namen gemerkt, um mir alles von ihr anzusehen, selbst wenn sie in Vampirfilmen oder Arztserien mitgespielt hätte, auch wenn ich das, ohne sie zu kennen, für unterhalb ihrer Würde befunden hätte.

Sie war ganz in schwarz gekleidet, möglicherweise war sie also gerade Witwe geworden, obwohl sie nicht im typischen Witwenalter, sondern eher in der Blüte des Lebens stand. Wahrscheinlich war ihr Mann gerade erschossen worden, und sie musste den Abend kurzfristig außer Haus verbringen, während die Blutfecken in der Wohnung überpinselt wurden. Aber das würde ich nie erfahren, denn dass ich sie mit meinen Wanderschuhen und einem ungebügelten Hemd nicht ansprechen konnte, war klar.

Erst nachträglich bei der Niederschrift des vor Tagen erlebten, mir aber seither nicht aus dem Kopf gegangenen, fällt mir auf, dass sie nicht, wie es Unsitte geworden ist, etwas möglichst kompliziertes, eingebildet individuelles, vorgeblich weltmännisches wie „Kirschblütentee mit Ingwersalz, aber bitte in einer Keramiktasse und nur dreieinhalb Minuten ziehen lassen“ bestellte, sondern einfach nur „eine Tasse Tee“. Dennoch wurde der Wunsch von der Kellnerin schroff abschlägig beschieden.

„Ich habe die Kaffeemaschine schon gereinigt.“

Warum man das Stunden vor dem Absperren des Lokals macht, verstehen wohl nur Menschen in einem hauptsächlich biertrinkenden Land. Den Zusammenhang zwischen der dem übertriebenen Putzfimmel zum Opfer gefallenen Kaffeemaschine und einer Tasse Tee versteht jedoch überhaupt niemand.

Auch die wahrlich nicht komplizierte Kundin hakte nach, ganz unaufdringlich, wie um – sicher trotz besseren Wissens – zu implizieren, dass sie sich vielleicht missverständlich ausgedrückt hatte.

„Oh, ich wollte keinen Kaffee. Nur einen Tee.“

Jetzt erklärte die Serviererin, die anscheinend lieber nichts servierte, warum das auf keinen Fall möglich sei.

„Das Wasser für den Tee läuft durch die gleiche Maschine, verstehen Sie? Das geht heute nicht mehr.“ Sie war schon unwirsch geworden, vielleicht weil sie, wenn sie schon beim Thema Wasser war, darüber nachgedacht hatte, wie schön es wäre, am Rhein oder an der Wolga zu wohnen.

„Das ist Deutschland“, dachte ich. Ein Land, in dem in der Gastwirtschaft tätige Personen, die dafür wahrscheinlich eine dreijährige Ausbildung durchlaufen, Prüfungen bestanden und Diplome erworben haben, gar nicht mehr realisieren, dass man für Tee einfach nur einen Topf Wasser auf den Herd stellen muss, anstatt irgendwelche Knöpfe an komplizierten und überteuerten Maschinen zu drücken. Oder die nicht verstehen, dass selbst eine gereinigte Maschine durch das Kochen von Wasser nicht verunreinigt, sondern allenfalls noch mehr gereinigt wird. Und warum schafft sich eine Kneipe keinen Wasserkocher für ein paar Euro an? Jeder Student hat so etwas auf der Bude.

Die Dame, die nichts Heißes mehr bekam, tat mir leid. Sie ließ sich nichts anmerken, worin sich wiederum ihre Weltläufigkeit zeigte, denn dass jemand dieser Erscheinung und Wirkung nicht von hier, sondern wahrscheinlich aus Paris, aus Mailand oder aus dem Märchen kam, dessen war ich mir sicher. Aber als sich unsere Blicke streiften, nur einmal, aber auf so folgenreiche Weise, entfuhr ihr ein kurzes Lächeln, wohl wegen der Absurdität der Situation, das mich so elektrisierte, dass ich keinen Tee zum Aufwärmen und keinen Kaffee zum Wachbleiben mehr brauchte. Sie war wirklich außerordentlich bezaubernd, aber trug ihre Schönheit mit einer Nonchalance, wie wenn sie einfach jeden Morgen so perfekt aufwachte. Und diese dunklen Augen, die – aber halt, Ihr wolltet eigentlich mehr über den Tee erfahren.

Tee ist doch wirklich das einfachste der Welt: heißes Wasser und ein Beutel rein. Ich habe ihn schon im Gebirge gekocht, auf dem Feuer. Eine der ersten Fähigkeiten, die man im Gefängnis lernt, ist es, sich aus Draht einen Tauchsieder zu basteln, mit dem man Strom für den Tee abzapft. In Eisenbahnwaggons steht ein Samowar, der allzeit heißes Wasser spendet. Selbst in Workuta gab es Tee.

Seither muss ich jedes Mal, wenn ich mir eine Tasse Tee zubereite, an die unbekannte Frau denken. Und bald kommt der Herbst.

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Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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