Barmherzigkeit und Solidarität

Pfingstfest In der Krise besinnen sich die Kirchen auf ihre jüdischen Wurzeln. Franziskus:„Barmherzigkeit – das ist meine Haupt-Botschaft.“

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Für manchen in der christlichen Welt mag die diesjährige Passions- und Osterzeit zu den eindrücklichsten, intensivsten, vielleicht sogar spirituell bereicherndsten Tagen zählen, an die sie sich erinnern. Eine Zeit der Solidarität, eine Zeit von Mitleid und von Mitmenschlichkeit. In den Tagen, in denen die weltweite Christenheit des Sterbens Jesu von Nazareth und seiner Auferstehung gedenkt (Karfreitag und Ostern: „Triduum“), zeigte sich viel Mit-Menschlichkeit, Mit-Leiden, Barmherzigkeit: Denn das Antlitz des Todes, die Präsenz der Sterblichkeit war vielen neu ins eigene Blickfeld gerückt.

Was tun? Was beten

Schon in der Passionszeit gab es etliche, die die zurückgenommene Ruhe als etwas Besonderes wahrnahmen. Für manche bedrängend, für manche langweilig (weil sie zum Nichtstun verurteilt waren), waren manche vielleicht auch etwas neidisch, weil Christenmenschen es gewohnt sind,

sich wenigstens einmal im Jahr, rund um Karfreitag mit den „Schrecken der Todeswelt“ zu beschäftigen und sie deshalb (in weiten Teilen) so gelassen auf all das reagieren konnten. „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“, heißt ein altes Kirchenlied. Es gibt also eine Sprache und einen Umgang mit dem Thema.

Doch weil aufgrund von Beschränkungen ein Zusammenkommen an den Feiertagen nicht möglich war, mussten andere Formen gesucht oder reaktiviert werden. Fündig wurde man vielerorts mit dem individuellen Gebet (lat.: Oratio), besonders auch mit dem Gebet und Meditieren (lat.: Meditatio) der jüdisch-alttestamentlichen Psalmen. „Beten geht ja immer“, und in den Psalmen ist zudem an vielen Stellen genau die Situation „vorbedacht“ und „vorgebetet“, in der man sich in diesen Tagen fand.

So heißt es in Psalm 88:

Meine Seele ist übervoll an Leiden,

und mein Leben ist nahe dem Totenreich.

Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren.

Ich liege unter den Toten verlassen,

wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen.

Und in Psalm 102 (vgl. Ps 69):

Meine Tage sind vergangen wie ein Rauch,

und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.

Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras,

dass ich vergesse mein Brot zu essen.

Mein Gebein klebt an meiner Haut

vor Heulen und Seufzen.

Ich bin wie eine Eule in der Wüste,

wie ein Käuzchen in zerstörten Städten.

Ich wache und klage

wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.

Psalm 55:

Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe,

und Todesfurcht ist auf mich gefallen.

Furcht und Zittern ist über mich gekommen,

und Grauen hat mich überfallen.

Ich sprach: O hätte ich Flügel wie Tauben,

dass ich wegflöge und Ruhe fände!

So wollte ich in die Ferne fliehen

und in der Wüste bleiben.

Ich wollte eilen, dass ich entrinne

vor dem Sturmwind und Wetter. ...

Das Psalmgebet an sich ist dabei keine Neuentdeckung. Von vielen auch sonst individuell gepflegt, oft fester Bestandteil an Sonntagen, und durch die Jahrhunderte in Form der „Tagzeitengebete“ in vielen Gemeinschaften oft sogar mehrmals täglich liturgisch gesungen und meditiert.

Themen der Psalmen sind freilich nicht nur Todesgefahr, Verzweiflung oder Einsamkeit.

Es gibt auch den Sparpsalm für Eilige (Psalm 117, nur zwei Verse), Jubellieder, den „klugen“ Mose-Psalm (Ewigkeitspsalm 90) und den Big Data Psalm 139.

Gerade im Blick auf Karfreitag und Ostern (die kirchlich ja nie voneinander isoliert, sondern immer nur zusammen zu betrachten und zu verstehen sind) lag 2020, in Fußballsprache gesagt, der Ball zum eigenen existentiellen Verständnis nicht nur auf dem Elfmeterpunkt ohne Torhüter im Tor, sondern geradezu bereits auf der Torlinie, so dass man den Ball eigentlich nur noch anzustupsen brauchte. Hier hat sich in den Kirchen auch viel Rede- und Predigtkompetenz gezeigt, manchmal sogar in diesem digitalen Zeugs, sodass man sich als einfaches Kirchenmitglied eigentlich wenig Sorgen machen muss.

Doch gerade im Blick auf Karfreitag und Ostern gibt es immer wieder nicht nur Gewissheiten, sondern auch Phasen des Fragens, Nichtverstehens und Zweifels sind zu finden. Wie das eben exemplarisch gerade auch in den Psalmen zur Sprache kommt. (Im Lauf des Kirchenjahrs ist man nach Karfreitag und Ostern immer auch wieder hin zum Pfingstfest, als dem dritten großen Fest, wo sich das eigentliche Verstehen des Geschehenen ergibt, neu unterwegs.)

Barmherzigkeit ist das Zentrum des Christentums

Auch Papst Franziskus hat in den Märztagen vor Ostern ausdrücklich auf das jüdische Erbe rekurriert. Als er erneut deutlich machte, wofür er steht: „Barmherzigkeit – das ist meine Haupt-Botschaft“, war das implizit auch eine Referenz an das Judentum (Kardinalstellen im jüdischen Kanon sind: Ps 86,15, Ps 103,8, Ps 145,8 und mehrere Dutzend weitere Schriftstellen im Tanach). „Barmherzigkeit (…) ist das Zentrum des christlichen Lebens:“, sagte der Papst. „Barmherzigkeit ist nicht eine Dimension unter anderen, sie ist das Zentrum des christlichen Lebens: Es gibt kein Christentum ohne Barmherzigkeit.“ Der gedankliche Schritt von und zu Themen wie „Achtsamkeit“ ist nicht weit. Vielleicht und unter Umständen ist „Barmherzigkeit“ für Franziskus zudem ein interreligiöser Türöffner.

Barmherzigkeit in der Ökumene

Interkonfessionell ist mit Barmherzigkeit zugleich angeknüpft an ein unter Papst Johannes Paul II. weit geöffnetes Tor, die sogenannte Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GE), die neben der Katholischen Kirche auch vom Weltbund der Methodisten, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und von der Anglikanischen Kirche mitgetragen wird. Die Gemeinsame Erklärung hat einige biblische und lutherische Impulse aufgenommen. Sicher nicht von ungefähr wurde Martin Luther von Papst Johannes Paul II. als ein „Lehrer im Glauben“ bezeichnet und anerkannt. Woran in diesen Tagen gelegentlich erinnert werden kann. Was aber hat die Rechtfertigungslehre mit der Barmherzigkeitslehre zu tun? Im Grunde sind sie identisch. (Ein bekanntes römisches Wort besagt, „dass sich im Thema der [...] Barmherzigkeit das, was die Rechtfertigung […] bedeutet, auf neue Weise ausdrückt. Von der Barmherzigkeit Gottes ausgehend, die alle suchen, kann man auch heute den Kern der Rechtfertigungslehre neu interpretieren und ihn in seiner ganzen Relevanz darstellen.«). Mit der GE besteht also bereits ein interkonfessioneller Grundkonsens, hinter den man gar nicht mehr zurückzufallen braucht. Hier bieten sich vielfältige interkonfessionelle Optionen. Wie denn auch das Jahr 2021 von verschiedener Seite bereits als ein weiteres „Ökumene-Jahr“ in Aussicht genommen wurde.

Zwar bestehen fraglos insbesondere mentalitätsgeschichtlich weiterhin ganz erhebliche Unterschiedlichkeiten. Doch hat man sich im Jahr 2017 mit verschiedenen Versöhungsgottesdiensten an vielen Orten auf einen Weg des „Healing of Memories“ (Heilung der Erinnerungen) gemacht. Barmherzigkeit mit sich selbst und mit dem anderen muss da vielleicht noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen und wachsen können. Es wird dabei womöglich auch noch das eine oder andere Wort zu wechseln sein. Doch mit Barmherzigkeit im Zentrum ist ein vielversprechender Anfang gesetzt und auch gemacht.

Dass sich Barmherzigkeit innerkirchlich durchsetzt, dazu trägt bestimmt auch der jährliche Bibelsonntag bei, den die Katholische Kirche in diesem Jahr zum ersten Mal begangen hat. Die Psalmenlese und individuelle Bibelmeditation hat sich jedenfalls bereits in der Passions- und Osterzeit 2020 vielerorts bewährt.

Aktuelle Relevanz von Barmherzigkeit

An der gegenwärtig geübten Solidarität und Mitmenschlichkeit lässt sich gut der Stellenwert von Barmherzigkeit ablesen. (Gehen wir dabei davon aus, dass die Solidarität tatsächlich weniger aus Angst vor eigenen „Nachteilen“, denn von „Rücksichtnahme“ auf den Mitmenschen und Nächsten herrührt. Unabhängig davon stellt sich dennoch auch die nicht nur philosophische und ganz praktische Frage, ob Barmherzigkeit gegenüber den einen zu Unbarmherzigkeit gegenüber anderen führen kann, darf oder muss…)

Kirchlich-Spirituelle Relevanz von Barmherzigkeit

Dass Barmherzigkeit eine eminente kirchlich-spirituelle Relevanz besitzt, hat sich bereits bei der Betrachtung der jüdisch-alttestamentlichen Psalmen gezeigt.

Die zitierte Sequenz „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ ist schließlich aufgrund und im Kontext von Passion und Ostern umgekehrt worden zu: Mitten wir im Tode sind von dem Leben umfangen.“ Doch können selbst einmal errungene Gewissheiten auch wieder fraglich werden, Fragen neu aufbrechen, theologisch gesprochen die Situation der tentatio (die Situation des Zweifels und der „Anfechtung“). Und dies führt dann zurück in das (Psalmen-)Gebet (Oratio) und in die neuerliche (Psalmen-)Meditation (Meditatio, s.o.). Mit diesem Dreischritt (Oratio Meditatio Tentatio) ist so ein weiterer ökumenisch anschlussfähiger Themensektor genannt, der auf dem Weg hin zum Pfingstfest aus den jüdischen Wurzeln einen über- und interkonfessionellen Grundkonsens aufzeigt. Dem Muster der jüdischen, unermüdlichen und kontinuierlichen Psalmenmeditation (vgl. Psalm 119) sei Dank.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

m.schuetz

Hobby-Intellektueller, angehender Humorist, (jetzt auch Spaßblogger, Aktivist und Bürgerrechtler), twittert hier nicht

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