Dürftigkeit im Reichtum

Licht und Schatten Über die Demontage der Daseinsfürsorge

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Wir leben im Reichtum. Gemessen am globalen Lebensstandard befinden wir uns, egal welcher Maßstab angelegt wird, im oberen Bereich. Der Aussage, dass es uns noch nie so gut ging, wie eben jetzt, kann man mehr oder minder zustimmen. Denn selbst einkommensschwache Menschen leisten sich Dinge, von denen anderswo auf dem Planeten nur geträumt wird. Und doch macht sich bei näherer Betrachtung eine Dürftigkeit inmitten unseres Reichtums bemerkbar. Eine Dürftigkeit, die weniger aus Bedürftigkeit kommt, sondern sich eher als eine Art von Mangelerscheinung bemerkbar macht. Und zwar einer, die schleichend unser Leben unterwandert.

Dabei geht es um jene Dinge, die eigentlich zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören, unter den aktuell herrschenden Verhältnissen aber der Privatwirtschaft überlassen und damit eben von keinen öffentlichen, sondern privaten Interessen gesteuert werden. Beginnend bei der Schließung von „unrentablen“ Bahnstrecken bis hin zur Privatisierung von Postdienstleistungen reicht die Palette der Einschnitte, die die Bürger hinzunehmen, auf die sie weder Einfluss noch Korrekturmöglichkeiten hatten und haben. Es soll inmitten von Europa ein Land geben, in dem jeder noch so kleine Ort problemlos und schnell mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist. Und zwar deshalb, weil sich die Schweizer Bürger vor Jahren per Referendum dafür entschieden haben, die Bahn als bevorzugtes Verkehrsmittel auszubauen. Das ist hierzulande vollkommen unvorstellbar. Nicht nur fehlt es uns an der Möglichkeit des Referendums, auch die Bahn ist in Deutschland eben nichts anderes als ein rein wirtschaftlich agierendes Unternehmen. Daran ändert rein gar nichts die Tatsache, dass es aufgrund der Liberalisierung nun mehrere Anbieter gibt oder der Bund Eigentümer der Bahn ist. Geleitet wird sie vom Profitstreben der Aktionäre.

Besonders prekär wird die Situation aber im Gesundheitswesen. Hier, wo es um Menschen geht, wo sich eine wahrhaft humane Gesellschaft zeigen müsste, wird gespart und gekürzt, gefeilscht und gehandelt wie auf einem Basar. Der Arzt als Unternehmer, der IGEL-Angebote verkauft, so hat man es gern in diesem Land. In großen Krankenhäusern werden aufgrund von Bettenmangel Operationen verschoben. Grund sind Notfälle. Für Notfälle sollten Krankenhäuser Ressourcen vorhalten, vollkommen unabhängig von geplanten Behandlungen. Das aber ist unrentabel. Wie schön, dass wir Krankheit mit der Elle von Börsianern messen. Ewig lange Wartezeiten, überlastetes Krankenhauspersonal und genervte Menschen auf beiden Seiten der Sprechzimmertür sind die Folge.

Eine weitere interessante Erbärmlichkeit ist die in den letzten Jahren aufkommende Serviceleistung der „Mitfahrbänke“. Wenn Tante Liese vom Dorf in die Kreisstadt möchte, nimmt sie auf einer solchen Bank Platz und wartet, bis ein Autofahrer mit gleichem Ziel anhält und die Tante mitnimmt. Der öffentliche Personennahverkehr wird so auf sehr eigenartige Weise privatisiert in Form des Per-Anhalter-Fahrens auf hohem Niveau. Wie die Tante dann aus der Stadt zurück aufs Land findet, bleibt ein Geheimnis bei dieser Art des Reisens.

Es gibt eben doch Dinge, die unter keinen Umständen dem Profit geopfert werden sollten. Ein schönes Argument für die Privatisierung war immer, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer sei. Das stimmt aber nur insofern, als dass die hier gemeinten Dinge der öffentlichen Hand gar keine Unternehmen im eigentlichen Sinn sind. Sie sind Pflichtaufgabe des Staates. Schulen, Nahverkehr, Krankenhäuser, Notfallambulanzen, Polizei und Landesverteidigung, Wasser- und Stromversorgung, Post- und Telekommunikation, Bibliotheken, all dies sollte kostendeckend, aber nicht gewinnmaximiert durch den Staat organisiert werden. Und wenn schon nicht organisiert, dann wenigstens extrem streng reglementiert. Leider verabschieden wir uns in immer größeren Teilen von diesem Prinzip. Es wird dem freien Markt überlassen, was eigentlich des Staates wäre. Damit geben wir eine wichtige Seite des Sozialstaates preis: der Teilhabe aller am öffentlichen Leben. Teilhabe ist leider in immer stärkerem Maße vom Geldbeutel abhängig.

Noch ist die Lage nicht prekär, aber die Löcher werden größer, die durch das Gewinnstreben privater Unternehmen im öffentlichen Bereich gerissen werden. Wir sollten der Dürftigkeit keinen weiteren Platz einräumen, weil sie zu Bedürftigkeit führen könnte und damit zur weiteren Zementierung von Ungleichheit. Am Ende kann das niemand wollen, weil es den sozialen Frieden zerstört.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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