Glauben und Vertrauen

Erkenntnis Manchmal ist es besser, den eigenen Verstand zu benutzen

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Wir fuhren oft und gern Fahrrad. An der Schwelle zwischen Kindheit und Nicht-mehr-Kindheit hatte man nur wenige Verkehrsmittel zur Auswahl. Mein Freund M. besaß mein Vertrauen. Er war ein anständiger Kerl. Sonntags ging er zur Kirche, musste also vermutlich schon aus Weltanschauungsgründen gut sein. Das dachte ich jedenfalls oder fühlte es zumindest. Wir saßen also auf unseren Drahteseln und radelten durch den Wald. Die Sonne schien, die Vögel sangen und es war herrlich.

Auf gerader Strecke nahmen wir gern mal die Hände vom Lenkrad und fuhren freihändig. Bergab bekamen wir einen ganz schönen Zahn drauf, saßen wie Könige mit verschränkten Armen im Sattel und ließen uns den Fahrtwind ins Gesicht wehen. Dann ging es wieder geradeaus, wir traten in die Pedale und fraßen ein paar Kilometer. Irgendwann fiel meinem Freund etwas ein und er sagte beiläufig, nachdem er die Hände vom Lenker genommen hatte: „Du musst mal so lenken.“

Mit „so“ meinte er, die Arme zu überkreuzen und mit der rechten Hand das linke Lenkerende sowie mit der linken Hand dessen rechtes Ende zu bedienen. Überkreuz lenken, klingt einfach und herausfordernd. Mein Freund M. tat das selbst aber nicht, deutete nur an, was er meinte.

Nun ist es so, dass ich damals noch ein gutgläubiger Mensch war. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass mir jemand etwas so Deppertes vorschlägt, dass es mir, elegant ausgedrückt, zum Nachteil gereicht.

Ich griff zu, wie vorgeschlagen. Meine Rechte ging nach links, die Linke nach rechts. Ich hatte die Lenkstange noch gar nicht richtig berührt und eine gefühlte Zehntelsekunde später lag ich schon im Dreck. In einem Dreigroschenroman würde man jetzt schreiben: „Er wusste nicht, wie ihm geschah.“ Neben einem verbogenen Vorderrad, dass mir noch immer sehr deutlich vor Augen steht, erinnere ich mich genau, dass M. lachte, lachte und lachte, als er mich da liegen sah. Es könnte sogar eine Prise Hohn in diesem Lachen gesteckt haben, wenn ich es recht bedenke. Ob der Herrgott meinen Freund M. am Sonntag wohl tadelte? Ich weiß es nicht.

Ich habe aber noch genaueste Erinnerungen an den Krankenhausbesuch am Abend. Mein linker Arm war am Gelenk gebrochen, ich konnte ihn kaum noch bewegen, was den Röntgenarzt aber nicht davon abhielt, ihn mir zwecks einer besseren Aufnahme geradezubiegen. Damals lernte ich, wie schön es ist, wenn der Schmerz nachlässt. Mein linker Arm wurde eingegipst, für sechs Wochen war es nichts mit Fahrradfahren. Was aber schlimmer wog, war der Verlust an Urvertrauen.

Heute weiß ich natürlich, dass es saublöd von mir war, zu tun, was man mir anempfahl. Das war eine gute Lehre. Denn gelegentlich kommt es noch immer vor, dass jemand versucht, mir etwas einzureden. Es gibt ein paar schöne Beispiele, die lange im Gedächtnis haften bleiben. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, „Der Sozialismus siegt“ oder auch „Die Rente ist sicher“ fallen mir da spontan ein. „Die Privatisierung von Post und Telekom wird die Preise fallen lassen“ oder „Die unsichtbare Hand des Marktes wird es richten“ sind auch so schöne, moderne Märchen.

Seit ich vom Fahrrad gefallen bin, hege ich leise Zweifel daran, ob immer stimmt, was mich, mal offiziell, mal ganz privat, an Mitteilungen erreicht. Um es mit Kant zu sagen, ich habe seither den Mut, mich meines eigenen Verstandes zu bedienen. So gesehen, kann ich Freund M. eigentlich dankbar sein, dass er mir die Augen öffnete. Wo Schatten ist, da muss eben auch Licht sein oder alles Schlechte hat sein Gutes, wie der Volksmund sagt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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