Zweifel und Vergewisserung

Einhundert Texte Über das Schreiben

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Die Menge des Geschriebenen übersteigt bei weitem das Maß dessen, was ein einzelner Mensch zu lesen imstande wäre. Warum also sollte ein Autor dieser unüberschaubaren Menge Text weitere Puzzleteile hinzufügen? Warum schreiben Menschen, warum schreibe ich? Was ist der Grund, dass Schreiber von sich Kunde geben in Form von Gedichten, Geschichten, Blogbeiträgen oder Romanen?

Schreiben ist mehr als mitteilen wollen. Schreiben dient nicht in erster Linie der Übermittlung von Inhalt. Wenngleich auch das Ziel sein kann, dient das Schreiben doch in erster Line der Selbsterkenntnis. Wer schreibt, hat Zweifel, lebt manchmal in Verzweiflung. Diese Zweifel, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Lebens machen das Schreiben zu einer Möglichkeit, zu Erkenntnissen zu kommen. Die Welt erkennen, um über sie zu schreiben, ist Antrieb und Motor des Schreibenden.

Die Sinnsuche im Wort beginnt oft schon in dem Moment, wenn der später Schreibende zu lesen gelernt hat. Er sucht und findet in den Texten Verbündete, die Autoren werden seine Freunde, über alle Zeiten und Entfernungen hinweg. Später dann befiehlt eine innere Stimme den Griff zu Stift und Papier, respektive zur Tastatur. Unzufrieden wird, wem das Schreiben Notwendigkeit ist und es nicht ausgeführt werden kann. Einer Sucht gleich, wollen Buchstaben geformt, Worte festgehalten und Sätze gebaut werden. Texte werden geschrieben und verworfen, ganze Seiten Geschriebenes vernichtet, um aus der Asche gelöschter Zeichen Neues und Besseres entstehen zu lassen. Manchmal geschieht das auch nur im Kopf. Da wird formuliert, werden Dialoge erfunden, Figuren gestaltet und Handlungen entworfen.

Im Schreiben kristallisiert sich meist ein tieferer Sinn. Leben und Erleben, welches wir oft als nicht festzuhaltenden Fluss unserer Lebenszeit wahrnehmen, wird durch das Manifestieren im Wort zu etwas Bleibendem, etwas, das die Zeitläufte überdauern kann. Das geschriebene Wort ist, wie jede andere Kunst, eine der wenigen Möglichkeiten, etwas über den Tag hinausweisendes entstehen zu lassen. Der Text ist somit Zeitzeuge, aber auch Resultat der Selbstreflektion des Autors.

Die Möglichkeit des Schreibenden, Welten entstehen zu lassen, Erinnerungen wachzuhalten, Erlebnisse festzuhalten oder menschliches Handeln zu hinterfragen, ist ihm Bedürfnis und Ansporn zugleich. Mancher geschriebene Text findet auf oftmals unerklärliche Weise zu seinem Leser. Und je weniger Absicht der Autor beim Schreiben aufwendet, je weniger er diesen Leser im Auge hat, je mehr er das Geschriebene mehr für sich als für andere zu Papier bringt, umso eher wird es diesen Leser finden. Im Konkreten das Allgemeine fühlen, im Alltäglichen das Besondere sehen, niemals aktuell sein wollen um jeden Preis und im Kleinen das Große erkennen, das ist Zweck und Ziel des Schreibens.

Und ist damit etwas zu ändern? Nein, durch Schreiben ist die Menschheit nicht änderbar. Schreiben kann, wie andere Kunstformen, nur Anregung liefern und Anstöße geben. Aber ändern kann Geschriebenes niemals die Gesellschaft als Ganzes, wohl aber kann ein Text den Einzelnen zum Nachdenken bringen. Darum haben die Mächtigen immer wieder mal die Schreiber und das Geschriebene gefürchtet und manchmal beides in Flammen zu vernichten versucht. Aber ist das geschriebene Wort erst einmal in der Welt, ist es nur sehr mühsam auslöschbar.

Schreiben ist Selbstvergewisserung und Erkenntnisgewinn. Und wenn manch Leser beides nötig hat, umso besser.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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