Auf den Titelseiten von DDR-Zeitungen im Sommer 1973 ist eine junge, schwarze Frau mit mächtigem Afro zu sehen, die bei der Jugend so beliebt wie ein Popstar ist. Angela Davis. Bewundert nicht nur, weil sie dem rassistischen Establishment der imperialistischen USA die Stirn geboten hatte, sondern auch, weil sie so gern „mit wiegenden Schritten“ zu Stones-Songs tanzte, wie eine Tageszeitung schrieb. Die erwähnte zudem noch, dass Mick Jagger persönlich mit einem großen Strauß roter Rosen zur Entlassung aus dem Gefängnis gratulierte. Dieselbe Jugend las auch die Comic-Serie Mosaik, in der junge Afroamerikaner „Negerjungen“ genannt wurden, die von sich nur in der dritten Person sprechen und von guten Weißen aus der Sklaverei befreit werden. Ibram Kendi nennt das in seinem erzählenden Sachbuch, das uns amerikanische Ideengeschichte von der Landung der Mayflower bis zur Wahl des ersten schwarzen US-Präsidenten nahebringt, „rassistischen Abolitionismus“.
Der Historiker Kendi erzählt die Geschichte rassistischer Ideen anhand der Biografien von fünf Persönlichkeiten der amerikanischen Geistes- und Politikgeschichte: Cotton Mather (1663-1728), ein puritanischer Geistlicher, Thomas Jefferson (1743-1826), Autor der Unabhängigkeitserklärung, William Lloyd Garrison (1805-1879), der erste prominente Anti-Sklaverei-Aktivist der USA, der Afroamerikaner W. E. B. Du Bois (1868-1963), Gelehrter und Bürgerrechtler, und schließlich die 1944 geborene antirassistische Feministin Davis. Unsere Helden und die eine Heldin reagieren auf politische Entwicklungen, Aufstände und rassistische Verbrechen. Sie begegnen Widersachern und Mitstreitern. Sie verfassen Kampfschriften und Bücher, gründen Zeitschriften und Vereinigungen, organisieren Wahlkämpfe und Aktionen. Das Buch liest sich wie ein episodenhaftes Biopic, dessen Schlüsselfiguren ihre Auftritte haben, um uns den verwirrend komplexen Streit um ihre Ideen zu erhellen. Kendis ironisch kommentierender Ton ist dabei von einer Melancholie durchsetzt, die nachvollziehbar wird, wenn er im Epilog das 2009 mit der Wahl von Barack Obama vermeintlich angebrochene post-rassistische Zeitalter als Illusion entlarvt.
Got my feet, got my toes
Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika, der Untertitel der deutschen Ausgabe, verspricht die Geschichte einer Ideologie und einer politischen und sozialen Praxis. Die Subline der Originalausgabe lautet aber The Definitive History of Racist Ideas. Kendi liefert dann auch vor allem das, eine Ideologiegeschichte. Die unpräzise Übersetzung von „racist ideas“ durch „Rassismus“ bedient die unreflektierte Vorstellung, Ideologiekritik wäre schon Praxiskritik. Bekämpft man Ideen, ändert man Praxis. Allerdings weist Kendi selbst immer wieder darauf hin, dass es umgekehrt ist und identifiziert die Funktion rassistischer Ideen für rassistische Praxis.
Er zeigt, wie Argumente für oder gegen Sklaverei, für oder gegen Rückführung der Schwarzen nach Afrika, für oder gegen die Behauptung einer rassisch bedingten Minderwertigkeit, für oder gegen politische Gleichstellung im 19. Jahrhundert sich immer auf das Kriterium der Sicherung eines ausreichend großen Reservoirs an billiger Arbeitskraft zurückführen lassen. Einige Abolitionisten begründeten ihre Polemik gegen die Sklaverei in den Jahren vor dem Sezessionskrieg offen damit, dass der Raub der Arbeitskraft der Sklaven für die freien weißen Lohnarbeiter nachteilig ist. Mit solchen Beispielen wird klar: Ideologien sind nicht die Ursachen von Interessenpolitik, sondern Instrumente ihrer Durchsetzung. Denker wie David Hume, Adam Smith, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Charles Darwin werden in die weltanschaulichen Kontexte rassistischer Ideen eingeordnet und als Verfechter solcher Ideen gezeigt. Smith etwa, der das eigennützige Bestreben der Bürger als Voraussetzung allgemeinen Wohlstands bestimmte, sah bürgerliche Produktivität als eine Tugend der Weißen an. Den Schwarzen sprach er sie ab. Ihre Ausbeutung als willenlose Arbeitstiere war damit legitimiert.
Die Reagan’sche Law-and-Order-Politik, die auch mit Hilfe der rassistischen Idee von der besonderen Affinität der Schwarzen zu Gewalttätigkeit und Amoralität durchgesetzt wurde, bringt Kendi in eine Beziehung zur expandierenden „Gefängnis-Industrie“. Ein Verdienst dabei ist es, auf die Divergenz von Körper und Seele beziehungsweise Geist in den Menschenbildern von Rassisten hinzuweisen. Körperskepsis gehört im abendländisch-christlichen Menschenbild zu den elementaren weltanschaulichen Grundlagen rassistischer Ideologien.
„Die Seelen retten“, die Körper beherrschen, ausbeuten, missbrauchen, zerstören. Dieses Credo liegt letztlich allen diskriminierenden Denkweisen zugrunde. Xenophobie, Misogynie, Homophobie – die verachteten und angstbesetzten Anderen sind Wesen mit gefährdeter Seele, primitivem Geist und gefährlichen Körpern. Kendi erzählt von der weißen Angst vor schwarzen Körpern als bis in die Gegenwart fortdauernde Grundlage von Sexualisierung, Kriminalisierung und Verletzung. Die afroamerikanische Sängerin Nina Simone dreht in einem ihrer bekanntesten Songs den Spieß um: „Ain’t got no culture / Ain’t got no money / Ain’t got no faith / Ain’t got no God ...“ Und sie setzt den unveräußerlichen Bestand ihres Menschseins dagegen:
„I got my arms, got my hands / Got my legs / Got my feet, got my toes / Got my liver / Got my blood ...“ Sie verweigert die Assimilation von Geist und Seele nach weißen Maßstäben und besinnt sich damit auf ihre originären Kräfte, die die Basis für eine eigene, gleichwertige Kultur, Bildung und Produktivität sind.
Dieser Eigensinn der „bösen“ Körper ist die eigentliche Gefahr für die etablierte Herrschaft der weißen Männer. Kendis Buch wird als aufklärerische Schrift gegen das rassistische Rollback im Trump-Amerika gefeiert. Wir hier im alten Europa müssen mit den Sarrazins und Kubitscheks und Kölner Silvesternächten fertigwerden. Dieses Buch zu lesen kann dabei helfen.
Info
Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika Ibram Kendi Susanne Röckel, Heike Schlatterer (Übers.), C. H. Beck 2017, 604 S., 34 €
Kommentare 6
ja,
die hölle sind die anderen.
besonders die eigen-artigen.
-- Zitat Kendis ironisch kommentierender Ton ist dabei von einer Melancholie durchsetzt, die nachvollziehbar wird, wenn er im Epilog das 2009 mit der Wahl von Barack Obama vermeintlich angebrochene post-rassistische Zeitalter als Illusion entlarvt. -- Zitatende
Es ist nicht nur eine Illusion. Trumps Sieg hat ganz deutlich und sehr schmerzhaft damit zu tun, dass mit Obama ein Schwarzer Präsident war. Wie sehr damals der Rassismus bis hier in den Freitag zu spüren war habe ich erlebt, als ich einen Bericht über den Film "Amazing Grace" schrieb und über Obamas Auftritt nach dem Massaker von Charleston. Spott und Hohn erlebte ich da. Die Kommentare waren bösartig und fühlten sich alle dadurch legitimiert, dass Obama ja auch kritikwürdige Entscheidungen als Präsident gefällt hat.
-- Zitat Er zeigt, wie Argumente für oder gegen Sklaverei, für oder gegen Rückführung der Schwarzen nach Afrika, für oder gegen die Behauptung einer rassisch bedingten Minderwertigkeit, für oder gegen politische Gleichstellung im 19. Jahrhundert sich immer auf das Kriterium der Sicherung eines ausreichend großen Reservoirs an billiger Arbeitskraft zurückführen lassen. -- Zitatende
Das ist aber nicht ungefährlich . Auch da belässt der Autor die Handlungsoptionen und die Begründungen bei den "Weißen" oder gibt es keine "schwarzen" Unternehmer? Es ist alles in der Tat sehr resignativ. Denn es ist kein "way out" zu sehen. Inzwischen wird ja das Ringen von Minderheiten in den USA gegen Diskriminierung auch schon als Ablenkungsmanöver diskreditiert, als spaltende Identitätspolitik. So ähnlich ist es hier beim Kampf um eine gerechte Einwanderungspolitik oder in der Auseinandersetzung um Geschlechtergerechtigkeit . Ich sehe da im Moment echt kein Land.
Gutes Neues Jahr
Das Problem, dass Kritik an und Kampf gegen gruppenbezogene Diskriminierungen als zweitrangig gegenüber sozialen bzw. Klassenkämpfen angesehen wird, behandelt Kendi in seinem Buch an vielen Stellen. Es gab solche Auffassungen u.a. auch bei Leuten aus der Kommunistischen Partei, überhaupt in der Arbeiterbewegung, bei Gewerkschaften. Er kritisiert das, so wie das z.B. ja auch von Angela Davis kritisiert wurde.
In diesem Streit darüber, das zeigt schon die Art, wie das umstrittene Problem definiert wird, darüber also, was wichtiger sei, den Kapitalismus klassenkämpferisch zu überwinden, oder die in ihm diskriminierten Gruppen zu emanzipieren, zeigen sich Verkürzungen und Simplifizierungen auf beiden Seiten. Die einen erwarten, dass sich in der Auflösung des Klassenwiderspruchs alles andere von selbst erledigt, die anderen setzen die Prioritäten andersrum.
Kendi bietet in seinem Buch einen Schlüssel dafür an, über diesen toten Punkt hinaus zu kommen. Er stellt nämlich die diskriminierende Ideologie nicht abstrakt als Übel dar, erklärt sie nicht aus allgemeiner Niedrigkeit, Charakterschwäche oder Unaufgeklärtheit, sondern stellt sie in einen Zusammenhang mit Politik, Ökonomie und gesellschaftlicher Praxis. Wer Rassismus abschaffen will, muss erkennen, warum es ihn gibt. Wer die Gesellschaft im Ganzen verändern will, muss erkennen, wie sie funktioniert und wie ihre Machtstrukturen auch mit Hilfe von Diskriminierungsideologien wie Rassismus aufrechterhalten werden. An dem Punkt könnten sich alle treffen. Und es gibt durchaus „Land in Sicht“, will sagen, es gibt Feministinnen, die das so sehen. Tove Soiland z.B. oder Frigga Haug. Es gibt auch Linke, die wissen, dass man einen Obama als politische Figur kritisieren und ihm als Menschen für bestimmte Gesten Anerkennung zollen kann. Die also die Personifizierung der Verhältnisse nicht für zielführend halten. Die sogar sehen, dass in ihr der Ansatz für rassistische oder sexistische Verachtung steckt.
Der Kommentar war @Magda.
"Auch da belässt der Autor die Handlungsoptionen und die Begründungen bei den 'Weißen' oder gibt es keine 'schwarzen' Unternehmer?"
Das ist ein Missverständnis. Das bezog sich auf Darstellungen zur Mitte des 19. Jh.s. Zu der Zeit gab es tatsächlich fast keine afroamerikanischen Unternehmer. Und gemeint sind hier vornehmlich "weiße" Abolitionisten. Der Autor berichtet und zeigt Zusammenhänge. Ein Beispiel für die interessengeleitete Anwendung von Ideologie.
Ja, schon klar.
Zitat: -- "Wer Rassismus abschaffen will, muss erkennen, warum es ihn gibt. Wer die Gesellschaft im Ganzen verändern will, muss erkennen, wie sie funktioniert und wie ihre Machtstrukturen auch mit Hilfe von Diskriminierungsideologien wie Rassismus aufrechterhalten werden." --Zitatende
Gewiss, gewiss. Aber inzwischen wende ich mich - persönlich - eher von diesem Bild der Veränderung der Gesellschaft im Ganzem ab. Das gibt es nicht. Das ist eine alte llusion.
Ich sehe auch garnicht jene Kraft, die das wirklich alles bewerkstelligen will. Für mich - aber das ist bestimmt auch eine Illusion - entstehen aus den vielen emanzipatorischen Bewegungen durchaus gute Richtungen, aber kein Ende der ökonomischen, gesellschaftlichen Verhältnisse. Die kippen durch den Kapitalismus selbst. Aber, das ist ein "weites Feld".