„Die windstillen 80er Jahre. Die Stadt war viel leerer damals“, kommentiert Andreas Goldstein am Anfang des Films über seinen Vater Klaus Gysi eine Folge unscharfer Schwarz-Weiß-Fotos, Momentaufnahmen eines Ost-Berlin aus dem vergangenen Jahrhundert. Der Initiationsmythos des Klaus Gysi, 1928 aus dem Fenster auf die Straße geschaut und einen erschossenen Arbeiter gesehen zu haben und daraufhin Jungkommunist geworden zu sein, wird im Film als Blickkonstellation vielfach reproduziert. Wir hören die Geschichte gleich am Anfang und blicken dabei auf eine regennasse, von Laternenlicht beschienene Straßenkreuzung. Wir sehen fast den ganzen Film über auf Berlin-Szenerien, Prenzlauer-Berg-Tristesse in Graustufen, blass kolorierte Straßenszenen mit monoton fließendem Autoverkehr aus dem Ost-Berlin der Nachwendezeit. Oft geht der Blick von oben, wie beim Ur-Erlebnis des Vaters, aus dem Wohnungsfenster hinab auf die öde Nachbarschaft. An einer Stelle interpretiert der Sohn die Sicht des Vaters auf die Gesellschaft, die mitzubauen sein Anspruch war, als ein Zusehen, Hinabschauen von außen, von oben.
Klaus Gysi – Universitätsabsolvent, Verleger, Minister, Botschafter, Staatssekretär. Marcel Reich-Ranicki nannte ihn schon in den 1960er Jahren einen „Funktionär, der Intellektueller geblieben ist“. Er wurde für seine intellektuelle Überlegenheit bewundert. In diesem Film aber, durch die Augen des Sohnes gesehen, ist er eher eine Figur auf dem Schachbrett DDR, die von höhergestellten, aber auch nicht weiter blickenden Spielern geradezu willkürlich über das Brett geschoben wird. Und sich schieben lässt. Um 1950 gerät Gysi als „Westemigrant“, der in den 30ern in Cambridge und Paris gelebt hatte, zeitweise unter Verdacht und muss sich den Parteibeschluss einer „Funktionsbeschränkung“ gefallen lassen.
Angst vorm Verlassenwerden
Für den Sohn hat das den Effekt, dass der Vater nicht da ist. Dass der Vater die Familie schließlich verlässt und bei ihm eine beständige Angst vor dem Verlassenwerden einsetzt. Der Monolog, den Andreas Goldstein sich zum Sprechen auf die Bilder geschrieben hat, spricht mit derselben Melancholie über diesen Vaterverlust, die Vaterentzauberung, wie über den Verlust des Landes, eigentlich nur der Stadt, diesem Ost-Berlin, das ihm der Raum des Aufwachsens und des Vaterverlierens gewesen ist. Das scheint zunächst einleuchtend, denn dieses Land war ja das Projekt des Vaters. Der Funktionär, der nur rudimentär Vater sein konnte, weil er sein Utopia bauen musste. Der Sohn verliert beides, erst den Vater, dann das Land.
Andreas Goldstein, Mittfünfziger, der sich selbst ironisch einen frühreifen Spätvollendeten nennt, hat kurz nacheinander den Spielfilm Adam und Evelyn nach einem Roman von Ingo Schulze und nun den Essayfilm über seinen Vater, den DDR-Politiker Klaus Gysi veröffentlicht. Beide Filme werden als Statements zur DDR und als Reaktionen auf die westdominierte, in Klischees befangene konventionelle DDR-Reflexion wahrgenommen.
Die Figur des Vaters als höheren Funktionär des DDR-Staats oder der SED ist uns in den letzten Jahren häufiger begegnet. In Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts, in Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe und anderen. Und immer werden diese Männer sozusagen als die Personifizierungen des Staates DDR, einer später dann gescheiterten kommunistischen Gesellschaftsutopie interpretiert. Ihre Söhne gehen zu ihnen und damit zum Staat in Opposition, gleichzeitig aber genießen sie auch den Schutz und die Protektion ihrer prominenten Väter. Goldstein spricht an einer Stelle davon, dass er in der DDR-Schule keine Angst gehabt hätte, zu sagen, was er dachte. Erst später habe er begriffen, dass das ein Privileg war, das er nur als Sohn eines hohen Funktionärs genoss.
Das Schweigen der Töchter
Es fällt auf, dass die Geschichte der DDR fast ausschließlich als Geschichte des Aufbegehrens von Söhnen der Elite der DDR-Gesellschaft gegen ihre Väter erzählt wird.In Goldsteins Film gibt es eine Szene, die eine Schlüsselszene hätte werden können. 1967, DDR-Fernsehen, eine Gesprächsrunde. Die Teilnehmer sind Intellektuelle, ein bekannter Theaterschauspieler, ein Betriebsleiter und Klaus Gysi, zu dieser Zeit Kulturminister. Das Thema ist die Kulturpolitik der DDR. Alle reden über die „Werktätigen“ und davon, wie diese auch mithilfe von „Kultur und Kunst“ in ihrer Entwicklung vorangebracht werden können. Nur der Betriebsleiter spricht vom realen Alltag dieser Menschen. Goldstein, der in Interviews oft beklagt, dass die DDR heute kaum als etwas anderes als ein Antagonismus zwischen Repression und Freiheitswillen wahrgenommen wird, reproduziert im Grunde diese Sicht als Darstellung eines Konflikts zwischen irrenden, autoritären Vätern und ihren opponierenden Söhnen. In den Sphären der politischen und der kulturellen Eliten stellte sich das ja auch so dar. Die Leute, die wie der Betriebsleiter in jener Runde vom Leben der „Werktätigen“ berichten könnten, von deren Vaterschicksalen und Sohneskonflikten, kommen nicht zu Wort. Von den vielen Töchtern, die am Vater leiden, ganz zu schweigen
Der Funktionär ist das melancholische Nachsinnen über einen lange schon verlorenen Vater. Er ist auch ein Film, der wenigstens schemenhaft einen unzulänglichen Menschen hinter dem Klischeebild eines großen Funktionärs sichtbar macht. Aber ist er ein Film über die DDR? Der Hilfsarbeiter, der mit Mitte 50 kurz nach der Währungsunion arbeitslos wurde und nie wieder einen bezahlten Job bekam, sein Sohn, der in der DDR-Schule ohne Respekt vor den Autoritäten auftrat, weil er nichts zu verlieren hatte, nicht, weil er geschützt wurde – die beiden werden da wohl anderer Meinung sein.
Info
Der Funktionär Andreas Goldstein Deutschland 2018, 72 Minuten
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