Bettina Wegner, gerade Mutter des einzigen Kindes von Thomas Brasch geworden, ging eines Tages mit ihrem Söhnchen zu den Eltern ihres Freundes, um ihnen ihren Enkel vorzustellen. Ein Baby nimmt man schützend in die Arme, drückt es liebevoll an sich. Dieser Körperkontakt macht beide Menschen glücklich. Horst und Gerda Brasch taten das nicht. Bettina Wegner erzählt in Annekatrin Hendels Film Die Familie Brasch von dieser Begegnung. Mutter und Kind wären sehr kühl und abweisend behandelt worden. Der erwachsen gewordene Junge, Benjamin Schlesinger, berichtet im Film, er hätte seine Großeltern nie wirklich kennengelernt.
Die Braschs, eine Jahrhundertfamilie, heißt es. Schnell wird auch der Vergleich mit der Blaupause der deutschen Intellektuellen-Familie, den Manns, oder deren fiktivem Alter Ego, den Buddenbrooks, gezogen. Verkörpert eine Familie wie die Braschs eine Utopie? Was ist eigentlich diese Utopie? Der Freitag fragt seit einiger Zeit ausgesuchte Leute, „Was ist Kommunismus?“. Manche antworten, eine Utopie, schöne Idee, aber unerreichbar. Kommunismus? Jeder weiß gleich, was gemeint ist. Keiner kann es sagen. Kommunismus halt. Eine Illusion.
In Annekatrin Hendels Film-Porträt der Familie um den DDR-Funktionär Horst Brasch und seinen ältesten Sohn, den Dichter und Filmemacher Thomas Brasch, wird diese dem Zuschauer zunächst so präsentiert, als wären die Braschs tatsächlich eine Art kommunistische Buddenbrooks gewesen. Die Regisseurin lässt den Künstler Leif Heanzo das fiktive Familiengemälde einer realen Familie anfertigen, die uns die Familie Brasch als bürgerliche Familie in einem standesgemäßen Ambiente zeigt. Die „Manns der DDR“? Ein Klischee, das vielen Rezensenten ganz von selbst aus der Feder fließt.
Regisseurin Hendel selbst hat nichts gegen diesen Bezug. Die Jahrhundertfamilie Brasch sei geeignet, in den persönlichen Beziehungen ihrer Mitglieder die große Geschichte zu spiegeln. Hendel betrachtet ihren Dokumentarfilm als Vorarbeit für einen Spielfilm über diese Familie. Auch deshalb sei es ihr nicht gelungen, bei der Arbeit eine distanzierte Chronistinnen-Sicht zu wahren. Dem Film hat es gut getan. Er zeigt uns nämlich weniger die große Geschichte im Bild einer Familie, sondern eher eine Familie unter den Umständen, die die große Geschichte bestimmen.
Thomas Brasch nannte einmal eine Sicht auf das Gefühl von Einsamkeit „reaktionär“, die das Einsamsein eines Menschen als rein psychologische Erscheinung definiere. Einsamkeit müsse politisch verstanden werden. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf können wir den Film über die Familie Brasch als das Nachzeichnen eines Beziehungsgeflechts sehen, das uns die Vereinsamung der Familienmitglieder als historisch-politische Angelegenheit zeigt. Horst, der Vater, dessen Familie die Partei ist, Gerda, die Mutter, aus einer jüdischen Wiener Familie stammend, die am Gefühl der Heimatlosigkeit vereinsamt, Thomas, der mit zwölf in die Kadettenschule gezwungen, Marion, die als Kleinkind in die Wochenkrippe gegeben wird.
Filme von Männern
In dem Film Thomas Brasch. Das Wünschen und das Fürchten (Christoph Rüter, 2011) sah man den Dichter in einer Szene in der Dusche und dann mit freiem Oberkörper im Zimmer herumgehend. Brasch ist hier Mitte Fünfzig. Zwei Jahre später wird er tot sein. Der Mann, der als junger Kerl ein Frauenschwarm war. Alles Erlittene, das Geleistete, das Verübte haben der physischen Attraktivität seines Körpers eine leibhaftige Aura gegeben. Rüter montiert in diese Szene die Passage eines Fernsehinterviews von 1988, in der Thomas Brasch nach der Bedeutung einer von ihm oft gebrauchten Metapher gefragt wird: Haut. Brasch will nicht aus seiner Haut, um ein anderer zu sein. Er will aus seiner Haut, weil ihm seine Haut eine undurchdringliche Hülle scheint. Seine Utopie aber ist die Haut als das Medium des Kontakts, der Begegnung, des Übergangs vom Ich zum Du – zum Wir. Seine Realität ist die politische und historische Einsamkeit, die er erlitten hat als die Unmöglichkeit von Nähe zum Vater, zur Mutter.
Die Familie Brasch war eine patriarchalische Familie. „Ihr Mann ist ihre Grenze“, schreibt Thomas über seine Mutter. Die Filme und Artikel über den Schriftsteller-Dissidenten Thomas Brasch waren Filme von Männern über einen Mann. Die Familie kam meist nur in Gestalt seines Vaters vor. Erst mit dem Buch der „kleinen Schwester“, der „Überlebenden“ änderte sich das. Marion Brasch nannte ihren „Roman meiner fabelhaften Familie“ (Ab jetzt ist Ruhe, 2012) einmal ihre „Familienaufstellung“.
Als erste weibliche Regisseurin erzählt nun Annekatrin Hendel von dieser Familie. Die meiste Aufmerksamkeit bekommt auch bei ihr der Konflikt des ältesten Sohns mit dem Vater. Schon die fiktive Aufstellung der Familie in Heanzos Bild fokussiert diese Spannung. Thomas Braschs Jugendfreunde wie Christoph Hein und Florian Havemann werden als Zeitzeugen vor die Kamera geholt. Es sind aber vor allem die Frauen, die der Erzählung dieses Films eine neue Atmosphäre geben. Bettina Wegner, Katharina Thalbach, Ursula Andermatt, Petra Schramm, die Geliebten und Frauen der Brasch-Söhne, Marion Brasch, die Schwester. Lena Brasch, ihre Tochter.
Thomas Brasch sagt 1988 im Interview: Der Schmerz lässt uns lebendig sein. Wer wolle, dass der Schmerz aufhöre, gäbe der Todessehnsucht nach. Aber von Trauer ist bei ihm nie die Rede. Alle Männer sind tot, sind Geschichte. Die Frauen sind noch da. Sie sind Gegenwart und Zukunft. Sie leisten die Trauerarbeit.
Info
Die Familie Brasch Annekatrin Hendel Deutschland 2018, 90 Min.
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