6:2 in Gelsenkirchen. Die österreichische Perspektive.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Während auf deutscher Seite im Vorfeld des EM-Qualifikationsspiels zwischen Deutschland und Österreich in Gelsenkirchen nur über Herrn Lahms Buch und die Höhe des Sieges diskutiert wurde, herrschte im österreichischen Lager eine Stimmung aus Selbstzerfleischung, Zweckoptimismus und Verwirrung vor.

Für Verwirrung sorgte die unerwartete Nominierung von Marko Arnautovic, nachdem dieser aufgrund eines Fehlverhaltens bei den letzten Spielen nicht mehr berücksichtigt wurde, für Selbstzerfleischung sorgte der Teamchef selbst, indem er und seine Co-Trainer eine sehr komische Pressekonferenz gaben (Stichworte "...ganz a Lustiger" und "Trottel"). Und für Zweckoptimismus wurde auch wieder gesorgt. Man hoffte klammheimlich auf ein erneutes Cordoba. Hymne abfahren, Hand aufs Herz bei Constantini und ein wieder mal über alle Maßen seltsamer Thomas König als ORF Kommentator, der davon sprach, dass keine andere Mannschaft die Deutschen in der Quali so gefordert hätte wie die Österreicher (1:2 in Wien). Zweckoptimismus pur.

Es war also alles angerichtet für ein Fußballfest "auf Schalke". Ausverkauftes Haus, eine gute Stimmung und die spannende Frage: Kann die weitgehend aus Legionären bestehende Mannschaft aus Österreich ihren deutschen Kollegen den Schneid abkaufen oder wird es das befürchtete Debakel? Christian Fuchs führte die österreichische Nationalmannschaft in seinem neuen "Wohnzimmer" an. David Alaba durfte auf eine Vielzahl seiner Clubkollegen treffen. Und auch die Herren Pogatetz, Harnik und Arnautovic waren dazu geeicht, die Herren Podolski, Müller, Kroos, Hummels und Co. zumindest zu irritieren.

Die österreichische Aufstellung war eine Art 4-4-2 oder 4-4-1-1. Teamchef Constantini schickte den Neo-Hannoveraner Royer auf den linken Flügel, der Stuttgarter Harnik sollte zusammen mit Besiktas-Mann Ekrem Dag über die rechte Seite kommen. Arnautovic fühlt sich halblinks normalerweise relativ wohl. Zentral waren Alaba als 8er und der Mainzer Baumgartlinger als klassischer 6er eingeteilt. Die Viererkette bestand etwas überraschend aus Klein von der Wiener Austria (rechts), Schiemer von Red Bull Salzburg, Pogatetz von Hannover 96 und Fuchs von Schalke04 (links).

Der Plan war - so ließen es die Spieler und der Trainer nach dem Spiel verlauten - durch ein massives Mittelfeld die Kreise von Schweinsteiger, Kroos und Özil empfindlich einzuengen und im Spielaufbau zu stören. Wäre dies gelungen, hätten die Deutschen im Wesentlichen den Ball hin- und herbewegen müssen, ohne wirkliche Raumgewinn. Aber es kam anders...

Die Deutschen übernahmen das Spiel, bauten zunächst von hinten gemächlich auf um die Lücke zu finden. Leider machten die Österreicher den Fehler und versuchten mitzuspielen. Eine erste Chance rührte tatsächlich aus einer Kombination vom viel gescholtenen Dag (der noch kein Meisterschaftsspiel in den Beinen hatte) mit dem stets bemühten und lauffreudigen Martin Harnik. Der anschließende Eckball wurde über Freund und Feind in das gegenüber liegende Aus befördert. Ein deutliches Zeichen für die Nervosität der Österreicher. Die Deutschen ließen sich aber davon sowieso nicht beirren und ein "Sieg, Sieg" hallte schon nach wenigen Minuten von den Rängen. Auf österreichischer Seite sah man, dass die Sache schwierig werden würde. Schiemer konnte Özil im Laufduell kaum halten. Ebenso erging es Christian Fuchs, der permanent mit Müller konfrontiert wurde und in fast jeder 1:1-Situation den zweiten Preis erhielt. Auch wenn Fuchs nach dem Spiel von den österreichischen Medien viel gescholten wurde, muss dazu gesagt werden, dass sein offensives Pendant auf der linken Seite - Daniel Royer - und andere Mitspieler nichts vom Doppeln hielten. Weder Müller noch Podolski kamen in den Genuss einer besonders intensiven Behandlung. Die österreichischen Spieler empfahlen sich in den Zweikämpfen für Escort-Services oder entpuppten sich als interessierte Zuseher. So verwunderte das schnelle 1:0 nicht. Schweinsteiger kam über den Flügel (ja, was macht er denn da, wird sich das zentrale österreichische Mittelfeld gedacht haben), Schiemer versucht die Flanke mit einem Kopfball in die Zentrale zu klären. Özil bekam den zweiten Ball, direkt vor die Füße, Schuss, Tor.

Es lohnt sich gar nicht alle deutschen Tore zu beschreiben. Sie entstanden meist ähnlich. Über die Flügel eingeleitet, entweder per Flanke oder Direktschuss. Außdem geht es ja um die nicht vorhandene österreichische Perspektive. Beginnen wir mit dem "enfant terrible". Arnautovic ist eine Wundertüte. Dies bewies er auch in diesem Spiel. Sein Kopfballtor zum 3:1 und seine Vorlage zum 4:2 verdienen das Prädikat internationale Spitzenklasse und wurden wahrscheinlich nur vom 6:2 durch Götze in den Schatten gestellt. Martin Harnik konnte seine Schnelligkeit nicht auspielen - war jedoch sehr bemüht Bälle aus dem Mittelfeld zu holen. Ballsicherheit ist sowieso ein Konzept, das in der österreichischen Nationalmannschaft überbewertet wird. Die Deutschen zeigten über weite Strecken, wie mann mit einfachten Doppelpässen jede gut gemeinte Verteidigung aussteigen ließ. Dies bedeutet, dass auch Laufwege ohne Ball gegangen wurden. Die österreichische Mannschaft stand grundsätzlich tief, was jedoch trotzdem zu genug Räumen führte. Mangelnde Aggressivität im Zweikampf ist nur ein Stichwort: wenn ich mich richtig erinnere wurden kaum Freistöße nach Faulspiel ausgesprochen, was ein starkes Indiz für fehlendes Zweikampfverhalten ist. Eine weiteres Defizit bestand in der Umsetzung des Systems. David Alaba war allgegenwärtig. Ob ihm diese Rolle explizit zugedacht war, wage ich zu bezweifeln. Er ging sogar bisweilen an die eigene Grundlinie um defensiv auszuhelfen, was nun wirklich nicht seine Aufgabe ist, weil durch derartige Aktionen das Mittelfeld nicht funktionieren konnte. In der ersten Hälfte lief er sogar zum eigenen 16er um von Torwart Gratzei den Ball zu bekommen und den Spielaufbau einzuleiten... Engagement ist die eine Sache. Taktische Disziplin und Umsetzen eines Systems eine andere.

Stichwort Taktik: Auch wenn es ein unpopuläres Thema ist: Das richtige Foul zur richtigen Zeit zu setzen ist oft eine Notwendigkeit. Man spricht vom "technischen Foul". Gerade beim 4:1 hätte dieses Mittel eingesetzt werden müssen... auf der anderen Seite ist es eine Krankheit der österreichischen Liga auf den Schiedsrichterpfiff zu warten (sowohl bei vermeintlicher Abseitsstellung, als auch bei "härteren" Zweikämpfen) und darauf zu hoffen, dass jedes kleine Gerangel abgepfiffen wird. Daniel Royer blieb daher auch ein oder zweimal demonstrativ liegen. Durch kleinliches Pfeifen entsteht kein Spielfluss. In der österreichischen Liga gehört Kleinlichkeit in den Schiedsrichterentscheidungen zum Alltag. Der italienische Schiedsrichter war ungewohnt großzügig, was definitiv den Deutschen entgegen kam.

Außerdem schien es mir, dass einige Spieler sich des Konzeptes der Raumdeckung nicht wirklich erinnern konnten, was aber auch vielleicht damit zu tun hatte, dass die Deutschen sehr variabel arbeiteten. Die Positionen blieben besetzt, wurden nur oft von anderen Spielern ausgefüllt. Wenn Schweinsteiger am Flügel aufschien war man sicher, dass in der Mitte Kroos oder jemand anderes absicherte. Wenn Boateng (gelernter Innenverteidiger!!!) auf dem linken Flügel marschierte zog Müller nach außen oder ließ sich fallen. Einfach wunderbar zum Ansehen. Stellvertretend für viele andere: Daniel Royer unterstützte Fuchs zu selten in der Defensive und bei seinen Aktionen nach vorne verlor er durch einen dummen Pass oft den Ball. Das Ergebnis: Die Deutschen fuhren den nächsten Angriff, während Teile der österreichischen Mannschaft in der Vorwärtsbewegung waren. Auch Baumgartlinger sicherte zu selten auf dem Flügel ab, wohl aus Angst, dass Kroos oder Schweinsteiger sich hinter seinem Rücken davon stehlen konnten. Eine weitere österreichische Krankheit: nur weil Royer ein wenig mit dem "Arsch wackelte" (Zitat Peter Pacult) wurde er wieder von den österreichischen Kommentatoren quasi als "Man of the Match" gesehen, obwohl er defensiv zu wenig tat. Diese Krankheit des Hochjubelns bremste zahlreiche österreichische Talente in ihrer Entwicklung. Sie fielen in ein riesiges Loch und konnten sich nur schwer auffangen (Wallner Drazan, Trimmel, Okotie uvm.)

Die österreichische Mannschaft war ab dem 1:0 bis zur 30. Minute überfordert. Ab der 30. Minuten entstanden dann ein paar Chancen durch Weitschüsse (Dag, Alaba) und eine Kopfballgelegenheit durch Pogatetz nach einer Ecke. In der 35. Minute sollte sich das 1:0 praktisch wiederholen. Podolski bekam den zweiten Ball nach schlechter Abwehrarbeit (herausgespielt wurde von hinten ja gar nicht) und zog ab... diesmal ohne Zählbares.

Die Deutschen spielten ab dann nur mehr "aus dem Stand". Sie wollten offensichtlich das 3:0 in die Pause mitnehmen. Der Anschlusstreffer durch Arnautovic entstand dann auch mit freundlicher Unterstützung der DFB-Elf. Klein kann nicht einmal in der österreichischen Liga so seelenruhig aus dem Stand flanken wie in besagter Situation. Als Zuschauer freute es mich. Die Sache bekam so eine gewisse Spannung.

Die zweite Hälfte begann mehr oder weniger mit einem Freistoß für Österreich. Er brachte nichts ein, außer einem Konter für die Deutschen. Die Österreicher sicherten nicht ab. Klein kam nicht ins Kopfballduell/Foul mit Müller und Fuchs fälschte Özils Schuss auch noch unglücklich ab. Das 4:2 war dann ein Traumtor. Arnautovic überhob sich selbst mit dem Rücken zum Tor und spielte direkt in den Lauf von Harnik, der nicht lange fackelte und abzog. Neuer rechnete mit ziemlicher Sicherheit nicht damit zweimal ins eigene Netz greifen zu müssen. Für die Zuschauer*innen war es super. Es kam wieder so etwas wie minimale Spannung auf. Würden es die Österreicher auf das 4:3 schaffen und somit vielleicht die zweite Luft bekommen?

Die Antwort ist schlicht und ergreifend "Nein". Die deutschen Einwechselspieler machten den Unterschied. Boateng kurbelte einen Angriff nach dem anderen, so als hätte er keinen Gegenspieler (hatte er auch nicht). Schürrle und Götze sorgten für Tore.

Die Hoffnung das Spiel mit einem taktischen Wechsel - sprich den schnellen Hoffer für Royer zu bringen - in den Griff zu bekommen, wurde nur mäßig erfüllt. Zum einen blieb Arnautovic stark in der Zentrale, obwohl er die Position von Royer am linken Flügel auch immer wieder auszufüllen suchte, zum anderen bekam Hoffer keine Bälle in den offenen Raum, oder die Möglichkeit zu sprinten, da kein zweiter da war, der ihm den Weg ebnete oder Hummels und Co. auf sich zog. So konnte er spätestens vom zweiten Verteidiger ausgeschaltet werden.

Das Spiel gegen die Deutschen war eine Lehrstunde für Österreich. Die Frage bleibt, ob es sich Österreich erlauben kann, Legionäre wie Garics, Berger, Manninger, Ibertsberger einfach zu ignorieren. Eine weitere Frage besteht darin, ob man das taktische Konzept nicht an die Fähigkeiten der Spieler anpasst, so wie es Paul Gludovatz bei seinem Antritt in Ried machte... Nur so ein Gedanke.

Das Spiel gegen die Türkei wird sicherlich nicht einfacher. Trotzdem freue ich mich drauf.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Neil Y. Tresher

Alle Angaben zu meiner Person sind Hörensagen mit Gewehr - äähm ohne Gewähr.

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden