Auf dem Hof vor dem flachen Backsteinbau warten etwa ein Dutzend Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Eine Tür geht auf, ein Arzt in Schutzoverall und Maske schaut heraus, winkt kurz rüber – und ruft dann einen Namen in das Wartezimmer unter freiem Himmel. Wegen der Corona-Pandemie wurde der Wartebereich der Poliklinik im Hamburger Stadtteil Veddel in den Außenbereich erweitert. Noch ist das kein Problem, es ist Dienstagvormittag und warm genug.
Ein hochgewachsener Mann in Schlabberjeans und grauem Hoodie balanciert einen kleinen Turm aus Tellern und Schüsseln zwischen den auf weit auseinanderstehenden Stühlen sitzenden Patient:innen. Tobias Filmar ist „Koordinator für die multiprofessionelle Zusammenarbeit“ in der Poliklinik hier, doch gerade steuert er die Pizzeria gegenüber an. Er hat Essenswünsche bei seinen Kolleg:innen und Geschirr aus der Teeküche eingesammelt. Plastikmüll sparen heißt die Devise. Alles in der Poliklinik Veddel ist politisch, auch das Mittagessen.
An einem Tisch vor der Pizzeria erzählt Filmar dann von der Theorie der sozialen Determinanten von Gesundheit. Klingt ziemlich abstrakt, er verdeutlicht sie an einem Beispiel: „Wenn jemand mit Kopfschmerzen in die Klinik kommt und es stellt sich heraus, dass die Person Schimmel in der Wohnung hat, dann wollen wir nicht nur den Kopfschmerz behandeln, sondern gemeinsam mit der betroffenen Person überlegen, wie wir mit dem Vermieter in Kontakt treten und eine Verbesserung der Wohnsituation erwirken können.“ Ein Fall, den es tatsächlich in der Klinik gab – und der zur Gründung einer „Schimmel-AG“ führte.
Patienten-Mieterinitiative
Das Kollektiv der Poliklinik, dem 25 Ärztinnen, Psychologen, Sozialarbeiterinnen, Hebammen und Pfleger angehören, soll nicht nur medizinisch versorgen, sondern Menschen auch dazu ermächtigen, für die eigenen Rechte einzutreten. „Gesundheit ist für uns der Ausgangspunkt für politische Arbeit, die in alle Bereiche hineinreicht“, so formuliert es Filmar, der hier auch psychologische Beratungen anbietet.
Ist der Kopfschmerzpatient mit der schimmeligen Wohnung, der dann Teil einer Mieterinitiative wird, nun die Regel – oder doch eher eine Ausnahme? Oft gehe es erst einmal um die hausärztliche Versorgung und auch einfach darum, schnelle Lösungen zu finden, erzählt Madeleine Does, 29 Jahre alt, die als Sozialarbeiterin in der Poliklinik arbeitet. Gerade in der Pandemie-Situation verkürze sich einiges darauf. „Im Vergleich zu anderen Stellen, an denen ich gearbeitet habe, existiert in der Poliklinik aber eine deutlich andere Haltung, und das merken auch die Patienten“, sagt sie. „Wir nehmen uns für jeden viel Zeit, fragen nach Netzwerken, Arbeitsumfeld und Lebensumständen.“
Dass soziale Faktoren nicht nur krank machen, sondern auch töten, ist vielfach belegt: In einer Veröffentlichung der Leopoldina aus dem Jahr 2019 heißt es: „Nach neuen Daten des Sozioökonomischen Panels, die bis zum Jahr 2016 reichen, beträgt die Differenz der mittleren Lebenserwartung bei Geburt zwischen Mitgliedern der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe 8,6 Jahre bei Männern und 4,4 Jahre bei Frauen.“ Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung zeigte ebenfalls 2019 in einer Auswertung von 27 Millionen Datensätzen, dass das Risiko von Männern aus dem am schlechtesten verdienenden Fünftel, im Alter zwischen 30 und 59 Jahren zu sterben, um 150 Prozent höher ist als bei Männern aus dem am besten verdienenden Fünftel.
Armut verkürzt die Lebenserwartung deutlich. Auf der Veddel, einer Hamburger Insel mit etwa 5.000 Einwohner:innen, sind viele arm. Sie dient – ähnlich wie der Berliner Stadtteil Neukölln – in stigmatisierenden Einwanderungsdebatten oft als Beispiel für einen „gescheiterten Stadtteil“. Dabei ist die Veddel vor allem infrastrukturell unterversorgt. Der Mangel betrifft auch die Gesundheitsversorgung, weshalb sich das Poliklinik-Kollektiv bei der Eröffnung vor etwas mehr als drei Jahren bewusst für den Standort entschied.
Etwa 1.000 Menschen werden derzeit pro Quartal hausärztlich in der Poliklinik behandelt, 300 Kontakte gibt es in der Sozialberatung, 400 psychologische Beratungen fanden im Jahr 2019 statt, die Hebamme ist bis Februar 2021 ausgebucht, bald soll deshalb eine zweite eingestellt werden. Auch wer nicht krankenversichert ist, wird behandelt. Häufig nehmen Patient:innen, die sich an die Hausarztpraxis wenden, danach auch die psychologische oder die Sozialberatung in Anspruch. Madeleine Does erzählt, dass manche Patient:innen sehr oft in die Praxis kämen, weil sie sozialen Kontakt suchten, gerade ältere Menschen. Auch das sei erwünscht: Wer möchte, kann jeden Tag in die Poliklinik kommen und dort auch einfach nur kostenlos einen Kaffee trinken und mit anderen schwatzen.
Dementsprechend gleicht die Klinik eher einem Stadtteilladen: In dem flachen braun-roten Backsteinbau befinden sich im Erdgeschoss Praxis, Wartezimmer und Beratungsbereich. Es ist gemütlich und farbenfroh. Neben der Anmeldung, die derzeit – wegen Corona – durchs Fenster gemacht wird, klebt ein von Regen und Sonne schon etwas mitgenommenes Plakat aus dem März, Aufruf für eine Demo: „Wohnen für Menschen statt für Profite“. Im Wartezimmer liegen Le monde diplomatique und analyse & kritik aus. Ein Pappschild lehnt an der Wand: „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ – Erinnerung an den feministischen Kampftag 2019. Unter dem Dach befinden sich Büro, Teeküche und der Gemeinschaftstisch, an dem die tägliche Sitzung und Fallbesprechung stattfindet. Ein großes Bild von Muhammad Ali hängt an der Wand, daneben ein Poster: „Gesundheit ist politisch!“
Mit den Menschen aus der Nachbarschaft auch gemeinsam zu demonstrieren, ist Teil der Idee – was nicht immer klappt. Manchmal seien die Themen einfach zu weit weg, sagt Madeleine Does. Zum Klimastreik 2019 habe ein Kollege ein Flugblatt für die Nachbarschaft geschrieben. Zum gemeinsamen Treffpunkt vor der Klinik kam aber niemand. Über andere Angebote wiederum reden die Nachbar:innen auch lange Zeit später noch: etwa über den Wellnesstag, den die Klinik ausgerichtet hatte. Warum? „Stress ist ein riesengroßes Thema für viele Menschen, die hier leben, ein Thema, das immer wieder auftaucht als Ursache für Krankheitssymptome.“
Stress wegen der Arbeit, der Wohnsituation, dem Jobcenter – da ist sie wieder, die Theorie der sozialen Determinanten von Gesundheit. Eine Theorie, der sich auch weitere Projekte verpflichtet fühlen: In Leipzig, Dresden, Halle, Köln und Berlin befinden sich Gesundheitskollektive im Aufbau, die wie die Poliklinik Veddel versuchen wollen, eine ganz andere Art der Gesundheitsversorgung zu praktizieren. In Berlin wird das Gesundheitskollektiv, wenn alles gut geht, im nächsten Frühjahr in Neukölln eröffnen. Mit dabei ist Johanna Henatsch, 39 Jahre alt, niedergelassene Internistin. Sie plant mit ihrem Kassensitz als Hausärztin in das Gesundheitskollektiv einzuziehen, erzählt Henatsch am Telefon. Jahrelang habe sie Notfallmedizin im Krankenhaus gemacht. „Das war auch gut, aber es bleibt immer bei Pflastermedizin – also der Behandlung von Symptomen, nicht der Ursachen.“ Für sie seien das Projekt Gesundheitskollektiv und die ihm zugrunde liegende Theorie „augenöffnend“ gewesen. Endlich gehe es darum, gemeinsam das anzugehen, was erst zu Krankheiten führe: soziale Ungerechtigkeit, Lebens- und Arbeitsbedingungen, Umweltbelastungen, Rassismus. Die Projekte sind miteinander vernetzt: Zur Corona-Politik der Bundesregierung hat man sich schon im März auf eine gemeinsame Stellungnahme geeinigt und Forderungen formuliert: darunter verschärfter Kündigungsschutz, ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie das Verbot von Mieterhöhungen und Zwangsräumungen.
Weg von der Ärztezentrierung
Die Corona-Pandemie hat aber auch den Versorgungsalltag der Poliklinik auf den Kopf gestellt: „Es gibt bei allem derzeit ein vor Corona und ein nach Corona“, sagt die Sozialarbeiterin Does. Viele Projekte und Ideen mussten aussetzen, ein Teil der Beratung räumlich ausweichen. Dafür kamen mit Corona neue Themen auf, und: Bestehende Problemlagen radikalisierten sich. Menschen wandten sich an die Poliklinik, weil sie nicht wussten, wie sie mit drei Zimmern und fünf Kindern durch den Lockdown kommen sollen oder Angst hatten, den Arbeitsplatz zu verlieren. Die Sozialberatung der Poliklinik richtete mit anderen Initiativen aus dem Stadtteil zu Beginn der Pandemie eine Veddel-Hotline ein, außerdem wurden alle Risikopatient:innen kontaktiert, man ging gemeinsam Regeln und Schutzmaßnahmen durch. Um das Wartezimmer unter freiem Himmel weiterführen zu können, wird das Kollektiv einen von der Stadt finanzierten Heizpilz und ein Zelt anschaffen.
An dem warmen Dienstag Anfang September aber sitzt man noch zusammen in der Teeküche unterm Dach. Die Nachfrage in der Klinik ist so groß, dass – auch unabhängig von Corona – eines der drängendsten Problem der Platzmangel ist. Es geht deshalb um die Gestaltung neuer Räumlichkeiten, die in der Nähe angemietet werden sollen. Was ist wichtig, welche Aufgaben sollen die neuen Räume erfüllen? Mehr als eine Stunde diskutiert das Kollektiv darüber, die Stimmung gleicht einem Politgruppen-Plenum. Anders als sonst im Gesundheitswesen sollen hier alle Professionen gleichberechtigt sein – weg von der Ärztezentrierung. Es gibt eine „Wie geht’s mir“-Runde, dabei wird gegessen.
Dann: Fallbesprechung. Eine Patientin bereitet allen große Sorgen, häusliche Gewalt und eine Schwangerschaft spielen eine Rolle, die Situation ist kompliziert. Was könnte ihr helfen? Am Ende einigt man sich darauf, den nächsten Beratungstermin abzuwarten. Nicht jeder Fall lässt sich so gut einpassen in das Konzept der Klinik wie der Kopfschmerzpatient mit der schimmeligen Wohnung.
Am Ende der Sitzung bleiben Plastikbeutel von der Pizzeria auf dem Tisch liegen, ganz hat es mit dem müllfreien Mittagessen doch nicht geklappt. Tobias Filmar rollt kurz mit den Augen und räumt dann das Geschirr weg. Um 15 Uhr öffnet die Klinik wieder, er muss noch eine Beratung vorbereiten.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.