Im Wettlauf mit der Zeit

Tschernobyl 30 Jahre nach der Atomkatastrophe braucht der Reaktor dringend eine neue Schutzhülle
Ausgabe 15/2016

Weiße Overalls, darüber blaue Jacken, Schutzhelm und natürlich Atemschutz – vier Männer stehen auf einem Stahlgerüst und gießen Beton. Fühlen können sie die Gefahr nicht: Dieser Arbeitsplatz ist der radioaktivste auf der Welt, nur 25 Meter entfernt vom zerstörten Atomreaktor Tschernobyl. Gleich fünf Kräne drehen sich auf der Baustelle, der Zeitdruck ist groß. Die Atomruine droht einzustürzen und eine neue radioaktive Wolke freizusetzen. Es ist ein Wettlauf gegen die Uhr.

Vor rund 30 Jahren flog das Kraftwerk in die Luft. Schnell wurde eine Schutzhülle rund um den kaputten Reaktor gebaut. Hinterher wurde geschätzt: Die Hülle werde 25, maximal 30 Jahre halten. Bald ist diese Zeit vorbei, daher wird an einer zweiten Hülle gebaut. Doch die ist noch lange nicht fertig. „Der zerstörte Reaktorblock ist nach wie vor einer der gefährlichsten Plätze der Welt“, sagt Konstantin Loganowsky vom Ukrainischen Forschungszentrum für Strahlenmedizin. „Nach unseren Erkenntnissen gibt es in seinem Inneren noch 180 Tonnen radioaktives Inventar.“ Er weiß, wie wichtig eine neue Schutzhülle ist, denn die alte droht instabil zu werden. „Das ist ein Problem für die gesamte Menschheit.“

Die Beteiligten

Vitali Petruk, ist ukrainischer Sonderbeauftragter für die Region Tschernobyl und leitet die Verwaltung der Sperrzone

Yaroslav Movchan, war früher Vize-Umweltminister. 1991 gründete der Ökologie-Professor die erste Umwelt-NGO der Ukraine

Konstantin Loganowsky, leitet den Bereich Psychoneurologie am ukrainischen Forschungszentrum für Strahlenmedizin

Sarkophag wird die Schutzhülle genannt, obwohl sie nicht wirklich an einen prunkvollen Sarg erinnert. Das graue Bauwerk ist so hoch wie ein 20-stöckiges Gebäude, es wirkt optisch bedrohlich. Die Außenwand wurde im Jahr 1986 in nur 206 Tagen errichtet – von 90.000 Leuten unter extremsten Bedingungen. „Beim Bau musste in Kauf genommen werden, dass die alten Stützkonstruktionen unzuverlässig waren“, erklärt Alexander Borowoi vom russischen Kurtschatow-Institut. Es war früher das Zentralhirn der sowjetischen Atomindustrie, Borowoi einer der Schutzhüllen-Konstrukteure. „Die Explosion und der Brand haben das Material des Kraftwerks stark angegriffen. Die wirkliche Festigkeit der Schutzhülle konnte wegen der gewaltigen Strahlung nicht überprüft werden.“ Informationen über den Zustand seien ausschließlich durch Fotos aus dem Hubschrauber gewonnen worden.

Die Roboter versagten

Ein Teil des Daches liegt nur lose auf den seitlichen Wänden. Verschweißt wurde dort nichts, die radioaktive Strahlung war damals so hoch, dass die ferngesteuerten Roboter – darunter auch westdeutsche – versagten. Andere Bauteile konnten ebenfalls weder verschraubt noch verschweißt werden. Sie sind einfach nur aufeinandergestapelt. Im Inneren des Sarkophags verbergen sich in absoluter Dunkelheit etwa 1.000 Räume, viele davon vollkommen zerstört.

Seit 2005 wird an der Hülle gearbeitet, die Außenmauern mit einem zusätzlichen Gerüst stabilisiert, ein zusätzliches Dach angebaut. „Es geht aber nur langsam voran“, sagte damals Julia Konstantinowa Marusitsch vom Dokumentationszentrum Sarkophag. „Die Leute dürfen immer nur für Minuten vor Ort arbeiten.“ Die Strahlung war einfach noch zu hoch: Unter der Hülle gab es Stellen, wo 20 Sievert pro Stunde gemessen wurden. Schon 2 Sievert sind tödlich. Ein Jahr später, 2006, hat die deutsche Strahlenschutzkommission den Sarkophag untersucht, im Auftrag der Ukraine. Ergebnis: Die Schutzhülle „hat den äußeren Einwirkungen der letzten 20 Jahre standgehalten“. Im Mai 1990 gab es etwa ein heftiges Erdbeben, auf der Richterskala wurde die Stärke 6,8 gemessen, das Epizentrum lag am Rand des Karpaten-Gebirges. Für den Sarkophag ging es glimpflich aus. In Zukunft könnte es jedoch anders aussehen. Die Strahlenschutzkommission mahnte daher: Eile tut Not, ein neues Containment muss her!

Zudem wurden schon zuvor am Sarkophag acht Risikogebiete lokalisiert. Mikrorisse etwa, Materialverschiebungen, Wassereinbrüche. Die Hülle war nicht mehr wirklich dicht, jährlich gelangten bis zu 2.000 Kubikmeter Regen- und Tauwasser durch die Ritzen in den Reaktor. Wie gefährlich die Leckagen bis heute sind, verdeutlicht eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bündnisgrünen: Das eingedrungene Wasser könne nach einer Berührung mit kernbrennstoffhaltigem Material ein Gemisch mit einer „komplexen chemischen Zusammensetzung“ bilden, das schlimmstenfalls „Quelle spontaner Kernspaltung mit Neutronenfreisetzung“ sein könnte. Heißt: Der erloschene Vulkan kann jederzeit wieder ausbrechen und neuerlich radioaktiv strahlende Isotope freisetzen.

Doch bis heute gibt es keine neue Schutzhülle, die das verhindert. Ursprünglich sollte sie schon 2007 vollendet sein. Doch Planung und Ausschreibung verzögerten sich immer wieder. Vitali Petruk ist Sonderbeauftragter der ukrainischen Regierung für Tschernobyl und erklärt: „Die Finanzzusagen aus dem Westen waren an die Stilllegung der drei anderen Reaktoren in Tschernobyl gekoppelt.“ Doch die Reaktoren eins bis drei produzierten nach der Katastrophe weiter Strom – noch bis ins Jahr 2000. Wissenschaftler hatten nämlich 20 Kilometer östlich vom Kraftwerkskomplex eine weitgehend unverstrahlte Gegend gefunden, dort wurde 1986 in Windeseile eine neue Heimatstadt für die Atomkraftwerker gebaut, inklusive Eisenbahnanschluss. Zehntausend Menschen fuhren weiter ins „Kombinat W. I. Lenina“ zur Arbeit, in das radioaktiv verseuchte Kraftwerk.

Immer wieder Geldprobleme

„In den 90er Jahren setzte sich in der Ukraine die Einsicht durch, dass das Land allein die Kosten für die neue Schutzhülle nicht stemmen kann“, sagt der Sonderbeauftragte Petruk. Erst nach dem Beschluss, die Reaktoren eins bis drei abzuschalten, konnte mit den Planungen für das neue Containment begonnen werden, jetzt mit internationaler Unterstützung. Gebaut wird seit 2010, von einem Konsortium aus den französischen Konzernen Vinci und Bouygues, den deutschen Firmen Nukem und Hochtief sowie mehreren ukrainischen Unternehmen. Das Projekt heißt Arc, auf deutsch: Bogen. Das beschreibt das Bauwerk sehr treffend. Das gewölbte Dach hat eine Spannweite von 257 Metern, ist in der Mitte 108 Meter hoch und nach hinten ist das Gebäude 162 Meter lang.

Es wird das gigantischste Bauwerk, das die Menschheit jemals bewegt hat. Der Arc steht nämlich auf Schienen, und wenn er fertig ist, soll er über den alten Sarkophag geschoben werden und die Unglücksstelle 100 Jahre lang von der Außenwelt abriegeln. Direkt vor Ort kann er nicht gebaut werden, denn am Reaktor ist die Strahlung noch so hoch, dass dort längeres Arbeiten die Gesundheit zerstört. Etwa 120 Meter neben dem Sarkophag haben die Arbeiter in der Sonne silbrig glänzenden Stahl aus Italien verschweißt. Auf dem Baugelände werden derzeit um die 3,5 Mikrosievert pro Stunde gemessen, wer die gesetzliche Höchstdosis erreicht hat, wird nach Hause geschickt. In der Umgebung ist die Strahlung geringer. In der Stadt Tschernobyl sind es 0,17 Mikrosievert, nur wenig mehr als beispielsweise in Nürnberg, wo die natürliche Strahlung bei 0,15 Mikrosievert liegt.

Die Zusage des Westens, die neue Schutzhülle zu finanzieren, bedeutete nicht, dass auch ausreichend Geld floss. 2011 gingen dem Bau-Konsortium die Mittel aus. Also wurde in Kiew eine Geberkonferenz einberufen, auf der die internationale Staatengemeinschaft der verschuldeten Ukraine 550 Millionen Euro zusagte. Als Termin für den Verschluss des alten Sarkophags wurde damals 2015 ausgegeben. Aber dann begannen im Herbst 2014 die Unruhen auf dem Kiewer Maidan, einige am Bau beteiligte Konzerne riefen ihre Mitarbeiter zurück. Im April 2015 war dann das Geld schon wieder alle. Eine Geberkonferenz in London sagte noch mal 530 Millionen Euro zu. Jetzt soll der Bau im November 2017 fertig und über den alten Sarkophag geschoben werden – 31 Jahre nach dessen Errichtung.

„Das Besondere am Arc ist sein vollautomatisches Instrumentarium“, sagt der ukrainische Sonderbeauftragte Petruk. Unter dem Bogen werden Kräne und Roboterarme angebracht, die den alten Sarkophag zerschneiden und das radioaktive Inventar im Inneren bergen sollen. Petruk: „Bislang haben die Arbeiten 1,5 Milliarden gekostet. Wir rechnen mit Gesamtinvestitionen von über zwei Milliarden Euro, aber nicht nur für die neue Schutzhülle, sondern beispielsweise auch für die Infrastruktur zur Zwischenlagerung.“ Ziel sei es, eine grüne Wiese zu hinterlassen.

Derzeit gießen die Arbeiter an der Westfront des Reaktors das Betonfundament. Sie alle tragen Dosimeter an ihrer Arbeitskleidung. „Wir überprüfen ihre Strahlenwerte und ihren Gesundheitszustand ständig“, sagt der Strahlenmediziner Loganowsky. Nur etwa jeder zweite Bewerber werde von seinem Institut überhaupt für die Arbeit zugelassen. „Neben der Physis spielt auch eine starke Psyche eine Rolle.“ Die Jobs sind begehrt, rund 10.000 Menschen arbeiten in der gesperrten Zone.

Doch es gibt auch Kritik an dem Projekt. „Die neue Reaktorhülle ist ein Fehler“, sagt Yaroslav Movchan, Ökologie-Professor an der Nationalen Luftfahrt-Universität der Ukraine und von 1993 bis 1999 Vize-Umweltminister des Landes. „Es gab seinerzeit 200 verschiedene Entwürfe für das neue Containment, ausgerechnet der teuerste und aufwendigste ist ausgewählt worden“, sagt Movchan. Er bezeichnet den neuen Bau als einen „Sieg der Europäischen Zentralbank, der ukrainischen Oligarchen und des Kapitalismus“.

Ein so großes Bauwerk sei gar nicht nötig. „Im Reaktor ist heute kaum noch radioaktives Potenzial“, meint er. In der Wissenschaft wird darüber seit langer Zeit gestritten. Movchan argumentiert wie folgt: Weil man sich beim Röntgen mit einer Bleischürze gegen die Strahlung schützt, seien die Verantwortlichen 1986 auf die Idee gekommen, mit dem Hubschrauber tonnenweise Blei in den brennenden Reaktorkern zu schütten. „Dort war es bis zu eintausend Grad heiß, Blei hat aber einen Siedepunkt von 327 Grad.“ Bevor das Material in dem tosenden Reaktor angelangt war, sei es tröpfchenförmig wieder aus dem Reaktorinneren herausgeschleudert worden – und habe die gesamte Umgebung verseucht.

Immerhin: 30 Jahre nach der Katastrophe hat die Strahlenbelastung in der Ukraine nachgelassen. Mediziner Loganowsky sagt: „Die Situation in der 30-Kilometer-Sperrzone ist unter Kontrolle.“ Natürlich gebe es noch Gebiete, in denen die Strahlung für Mensch und Tier gefährlich sei. „Aber das Hauptproblem der Zone ist nicht mehr die Strahlung, sondern die sozialen Verwerfungen der 350.000 vertriebenen Menschen.“ Viele lebten vor dem GAU in waldreichen Gegenden. Sie wurden in Städte umgesiedelt, mussten sich neue Arbeit suchen. Viele wurden depressiv, verfielen dem Alkohol. Für diese Menschen wird die Katastrophe auch mit der neuen Schutzhülle nicht zu Ende sein.

Nick Reimer ist Umweltjournalist und war schon mehrmals in Tschernobyl

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