Wie schlecht es für Kiew an der Front steht, ist einer geänderten Kommunikation der Regierung zu entnehmen. Noch vor einem halben Jahr waren stets Siegesparolen üblich, mittlerweile dominiert selbst bei der loyalsten Gefolgschaft Wolodymyr Selenskyjs der pessimistische Grundton. Was sonst, wenn russische Truppen an etlichen Frontabschnitten vorrücken, wie allein die vergangene Woche zeigt?
Erst fällt die lange umkämpfte Ortschaft Novomykhailivka südwestlich von Donezk, dann wird westlich von Avdiivka nach der Flucht ukrainischer Einheiten die Front Richtung Otscheretyne durchbrochen. Eilig verlegte Reserven können nicht verhindern, dass weitere Orte verloren gehen, nachdem mit Berdytschi und Pervomaiske eine zweite Defensivlinie bei Avdiivka aufgegebe
aufgegeben wurde. Weiter nördlich tobt eine Schlacht um die östlichen Bezirke von Tschassiv Jar. Es kann zum nächsten Bachmut werden, das vor fast genau einem Jahr geräumt werden musste.Dass sich für Kiew die Lage derart zuspitzt, geht weiterhin auf einen Mangel an allen kriegstragenden Faktoren zurück: Munition, Technik, Personal. Es beginnt bei alten sowjetischen Granaten für die Artillerie und endet bei Kampfjets, um eine annähernde Parität in der Luft herzustellen. Allenthalben fehlt es an Soldaten, da keine Freiwilligen mehr nachrücken. Das neue drakonische Mobilmachungsgesetz soll für Abhilfe sorgen, andererseits treibt es junge ukrainische Männer zur Flucht in Richtung Westen. So viel scheint klar zu sein: Wenn von dort nicht mehr an Rüstung geliefert wird, dann verliert die Ukraine. Umso gelegener kommt der Regierung Selenskyj das neue US-Hilfspaket in Höhe von 61 Milliarden Dollar, die bis Ende des Jahres über mehrere Tranchen verteilt werden sollen. Die erste davon ist laut US-Verteidigungsministerium bereits in Form von Waffen am Bestimmungsort eingetroffen. Sie enthält Equipment für die offensive und defensive Kriegsführung, darunter Flugabwehrraketen, HIMARS-Munition, Artilleriegeschosse, gepanzerte Fahrzeuge, Drohnen und Luft-Luft-Raketen – gedacht offenbar für F-16-Jets, die im Sommer zu erwarten sind. Zum Politikum der besonderen Art taugt der Beschluss, amerikanische ATACMS-Raketen mit erhöhter Reichweite zu verschicken. Die ukrainische Kriegsdebatte feiert dies als möglichen neuen „Game Changer“, der es erlauben werde, die gesamte Krim, inklusive der verhassten Krim-Brücke, ins Visier zu nehmen sowie die gegnerische Luftwaffe weit hinter der Front auf ihren Stützpunkten zu beschießen. Russische Kriegsreporter warnen davor, die neuen ATACMS zu unterschätzen, erklären aber zugleich, dies bringe nichts bahnbrechend Neues für diesen Konflikt. Kiew setze bereits Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow ein, die sich nicht leicht abwehren ließen. Entscheidend sei das Quantum der gelieferten ATACMS-Raketen. Werde sich die Biden-Regierung auf eine überschaubare Menge beschränken oder zum großen Wurf ausholen?Was zumeist übersehen wird: Von den 61 Milliarden Dollar sind nur 14 tatsächlich für Waffen in der Ukraine vorgesehen. Über 23 Milliarden werden die USA erst gar nicht verlassen, sondern in deren Rüstungsindustrie fließen, um die eigenen geleerten Waffenlager aufzufüllen. Gut elf Milliarden sind für US-Basen und die US-Präsenz in Europa bestimmt. Der Rest verteilt sich auf Ausgaben, die unterschiedlich stark mit der Ukraine zu tun haben. Wie stark ein solches Paket das Blatt im Krieg wirklich wenden kann, wird allenthalben mit Skepsis gesehen. Das US-Nachrichtenportal Bloomberg beschreibt das Hilfspaket als „Rettungsring“ für die Ukraine, der freilich den Gesamtverlauf nicht beeinflussen werde. Das Wall Street Journal nimmt an, dass Kiew damit bestenfalls die aktuelle Frontlinie halten kann, die Financial Times bezweifelt sogar das.Hält man sich an die russische Kriegsdebatte, reicht der jetzt gewährte Ukraine-Nachschub bei der gegenwärtigen Intensität der Gefechte für etwa sechs Monate. Danach werde ausschlaggebend sein, ob die EU in größerem Ausmaß einspringt. Sollte dies ausbleiben, sieht sich Moskau auf lange Sicht als Sieger, sofern es gelingt, die Produktionskapazitäten für alle Arten von Kriegsgerät hochzufahren. Potenzielle Offensiven entlang der russisch-ukrainischen Front im Sommer sind ebenfalls ein Thema. Sie werden darauf zielen, Pufferzonen auf ukrainischem Gebiet zu erobern, damit feindliche Waffensysteme das russische Staatsgebiet nicht oder kaum erreichen können. Ob dafür personelle Kapazitäten vorhanden sind, ist unklar. Was unmittelbar zu der Frage führt, ob der Kreml eine weitere Mobilmachung wagt. Dieser Schlüsselbegriff fällt in russischen Medien wieder häufiger.