Wolodymyr Selenskyj in Konflikt mit der Armee: Die ukrainische Mobilmachung ist gefährdet
Ukraine Differenzen zwischen Präsident Selenskyj und Generalstabschef Saluschnyj werden zur Machtprobe. Ihr Streit hat Folgen für die nötige Mobilisierung neuer Soldaten
Der Winter erleichtert die Lage an der Front nicht
Foto: ROoman Pilipey/AFP via Getty Images
Nach dem Fiasko der „Sommeroffensive“ wird in Kiew immer offener ein Dissens zwischen der politischen und militärischen Führung ausgetragen, die längst Züge eines Machtkampfes zwischen Wolodymyr Selenskyj und Walerij Saluschnyj hat. Den Präsidenten beunruhigen extrem hohe Umfragewerte für den Generalstabschef, in dem nicht wenige ukrainische Beobachter wie der im Exil lebende Journalist Anatolij Scharij einen aussichtsreichen Aspiranten sehen, sollte 2024 die fällige Präsidentenwahl stattfinden.
Lange Zeit wurde nach innen und außen Einigkeit demonstriert – damit scheint es vorläufig vorbei zu sein. Die Misserfolge auf dem Schlachtfeld haben zur Suche nach den dafür Zuständigen geführt. Generalstab und Regier
und Regierung geben sich gegenseitig die Schuld. Immer öfter teilen Selenskyj-Gefolgsleute gegen Saluschnyj und seine Umgebung aus und zweifeln öffentlich an deren Kompetenz. Zugleich beklagen ukrainische Militärs, Kampfhandlungen würden für die Staatsspitze zur „Show“, um politische Ambitionen zu bedienen – ein klarer Vorwurf an die Adresse Selenskyjs, dem recht unverhohlen bescheinigt wird, sein Renommee über militärische Rationalität zu stellen.Alles kulminierte Mitte Dezember, als ukrainische Medien über Abhörwanzen in Saluschnyjs Büro berichteten. Schnell bestätigte der Geheimdienst SBU solcherart Entdeckungen und kündigte eine Untersuchung an. Zwar hieß es, dass man es mit einer Operation ominöser „Kreml-Agenten“ zu tun habe, doch konnte das den Eindruck nicht entkräften, dass die Abhöraffäre auf interne Rivalitäten zwischen der Armee und zivilen Gegenspielern zurückging. Die Regierung versuche damit, so der Tenor, den Generalstabschef zu schwächen und innenpolitisch zu diskreditieren. Genährt wurde dieser Verdacht, als nur kurze Zeit danach Hennadij Tschastjakow, ein enger Vertrauter Saluschnyjs, bei einer Explosion getötet wurde, nachdem ihm zum Geburtstag ein Paket zugestellt wurde, das Handgranaten enthielt. Wohl wurde sofort die „Unfall“-These bemüht, nur befeuerte dies erst recht die Vermutung, dass es eine gezielte Tötung in den eigenen Reihen gegeben hatte, um ein Exempel zu statuieren und Saluschnyj mit einem unmissverständlichen Signal zu bedenken.Wolodymyr Selenskyj macht Wahlkampf mit der MobilmachungFolgerichtig wird auch die derzeitige Mobilmachungswelle zum Konfliktfeld zwischen Selenskyj und Saluschnyj. In diesem Augenblick verstärkt zu rekrutieren, das ist unumgänglich, soll nach den Verlusten im Vorjahr die Frontlinie gegen eine mögliche russische Winteroffensive gehalten werden. Wie aber das Thema in die Öffentlichkeit getragen wird, dies erinnert eher an Wahlkampf und verspricht keinen sensiblen Umgang mit einem für die Ukrainer heiklen Thema. So erklärte Selenskyj, der Generalstab verlange von ihm, bis zu 500.000 Menschen einzuberufen, allerdings müsse der ihm noch „die Argumente“ dafür liefern, dem zuzustimmen. Will heißen: Der Präsident inszeniert sich als „Retter“ gegen Saluschnyj, der gnadenlos alle – von Jung bis Alt – einziehen wolle und dafür einen jüngst veröffentlichten Gesetzentwurf für eine drakonische Mobilmachung vorbereitet habe.Daraufhin schlug Generalsstabschef Saluschnyj zurück und gab eine ausführliche Pressekonferenz, bei der er diese Darstellung widerlegte und Selenskyj faktisch der Lüge bezichtigte. Er habe zwar am Gesetzestext beratend mitgewirkt, federführend seien aber das Verteidigungsministerium und die Präsidentenadministration gewesen. Gerade Eckpunkte wie harte Strafen für Verweigerer, die elektronische Übermittlung von Mobilmachungsbescheiden oder die Rechte von Militärkommandos gegenüber Einberufenen gingen ausschließlich auf Verteidigungsminister Rustem Umjerow, einen Selenskyj-Vertrauten, zurück. Auch habe nicht Saluschnyj die Zahl 500.000 kommuniziert, sondern das Umfeld des Präsidenten. Das Geschacher erinnert an das Spiel mit der heißen Kartoffel, bei dem sich der Präsidentenapparat und der Generalstab bei einem unbeliebten, aber unumgänglichen Thema nicht die Finger verbrennen wollen.Innere Spannungen gefährden Kampfmoral der UkraineLängst zieht die Verstimmung in Kiew auch weitere Akteure in ihren Bann. So gab Hauptstadt-Bürgermeister Vitali Klitschko jüngst ein Interview, mit dem er sich demonstrativ hinter Saluschnyj stellte, Selenskyj Fehler vorwarf und die größere Beliebtheit des Generals in der Bevölkerung hervorhob. „Leute sehen, wer effektiv ist und wer nicht. Und es gab und gibt viele Erwartungen. Selenskyj zahlt für Fehler, die er gemacht hat“, sagte Klitschko und sprach offen von „Grabenkämpfen“, die gerade stattfänden.Ende Dezember meldete sich Julia Timoschenko, eine der Hauptfiguren des Maidan von 2014, und forderte von Selenskyj einen „Plan B“, damit das Land aus „einer schwierigen, ziemlich tragischen Lage“ herauskomme. Selenskyj müsse „rational“ und „strategisch“ handeln, statt sich nach Wünschen anderer zu richten. Prompt wurde erneut eine Reihe von Korruptionsskandalen ruchbar, bei denen es um riesige Summen an Hilfsgeldern, Spenden und Unterstützungslieferungen geht, die veruntreut wurden. Die wenigen darauf reagierenden Rücktritte wie der des einstigen Verteidigungsministers Oleksij Resnikow ändern nichts an den Zuständen, wenn die Regierungsstruktur unangetastet bleibt und relevante Posten mit Selenskyj-Getreuen besetzt werden.Fest steht, dass die inneren Spannungen für die Ukraine nicht weniger gefährlich sind als eine denkbare russische Winteroffensive. Was es an Kontroversen gibt, lässt die Kampfmoral der Armee nicht unberührt und verunsichert die Bevölkerung. Ganz zu schweigen vom Einfluss auf die Stimmung in den westlichen Staaten, die sich zunehmend schwertun mit weiteren Waffenlieferungen. Allen voran die USA, die in diesem Jahr einen neuen Präsidenten wählen. Allein die republikanischen Kandidaten beobachten offenbar recht genau, ob sich weitere „amerikanische Investitionen“ in einen womöglich nicht mehr zu gewinnenden Krieg noch lohnen.
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