Ursprung & Gegenwart (Band I & II) Jean Gebser

Kulturphilosophie Bewusstseinsgeschichte des Menschen

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Ursprung und Gegenwart Band I und II (zusammen etwas mehr als 1400 Seiten, 78,-)

Jean Gebser ist vor allem bekannt durch sein kulturphilosophisches Hauptwerk «Ursprung und Gegenwart». Gebser beschreibt in diesem Werk die mehrfache und vielfältige Strukturiertheit unserer Welt
und unseres Bewusstseins, die reiche Fülle der Bewusstseinskräfte, die nicht auf Verstand und
Vernunft reduziert werden dürfen.

Das besonders Spannende und Fruchtbare an seinem Ansatz ist sein Versuch, eine über das Mental-Rationale hinausgehende Bewusstseinsmöglichkeit zu beschreiben: Das integrale Bewusstsein, das die Wahrnehmung der Zeit und damit der dauernden Veränderung zulässt, das dualistische Entweder-Oder, die rationalen Eindeutigkeiten nicht verneint, aber überwindet und sich öffnet für die Transparenz des geheimnisvollen Ganzen.

Gebsers Methode ist die kulturphänomenologische Betrachtung der Relikte vergangener Zeiten (Bilder, Statuen, Schriftstücke) und die Untersuchung der Worte und ihrer Wurzeln. Er ist der Meinung, dass sich vier Bewusstseinsstrukturen nachweisen lassen, die den heutigen europäischen Menschen konstituieren und die in seiner Kulturgeschichte aufeinanderfolgend in Erscheinung traten. Er nennt diese Bewusstseinsstrukturen die archaische, die magische, die mythische und die mentale. In unserer Zeit ereignet sich seiner Meinung nach der „Durchbruch einer neuen, integralen Bewusstseinsstufe, deren Grundthema die Überwindung (Entprojizierung) des nur mentalen (linearen) Verhaftetseins an Raum und Zeit durch die Konkretion der Zeit (als zeitfrei erfahrbare Qualität ganzheitlich realisierter Gegenwart) ist“.

Die Bewusstseinsstrukturen werden gelegentlich als „Bewusstseinsphasen“ bezeichnet. Dies kann den Eindruck erwecken, als seien die Bewusstseinsstrukturen aufeinander gefolgt, indem eine Struktur die andere ablöste. Doch jede Struktur bleibt wirksam, auch nachdem eine neue Struktur aus ihr „herausmutiert“ ist. Deshalb spricht Gebser von Bewusstseinsstrukturen, und nicht von „Phasen“. Auch den räumlichen Ausdruck „Bewusstseinsebenen“ meidet er, denn die Bewusstseinsstrukturen sind „nicht bloße Raumgefüge“, sondern können „vor allem auch Gefüge raumzeitlicher, ja selbst raumzeitfreier Art“ sein.

Ferner ist Gebser der Meinung, dass das Bewusstsein sich nicht kontinuierlich „entwickelt“ hat, sondern dass sprunghafte, diskontinuierliche Wandlungen der Strukturen geschahen: sobald eine Struktur „defizient“ wird, sobald sie also erschöpft ist und sich destruktiv auszuwirken beginnt, gelangt eine andere Bewusstseinstruktur zum Durchbruch, die keine kontinuierliche Weiterführung der alten Bewusstseinsstruktur, sondern etwas vollkommen Neues ist. Den sprunghaften, diskontinuierlichen Charakter der Bewusstseinswandlung bringt Gebser zum Ausdruck, indem er von „Bewusstseinsmutationen“ spricht.

Denker wie Hegel glaubten in der menschlichen Bewusstseinsgeschichte eine fortschreitende Höherentwicklung zu erkennen, in deren Verlauf frühere Bewusstseinsformen als „Irrtümer“ erkannt und von neuen, „besseren“ Bewusstseinsformen abgelöst werden; keine neue Struktur ist „besser“ als die alte, aus der sie herausmutiert. Jede Bewusstwerdung sei zugleich Gewinn und Verlust. Sie sei ein Verlust, insofern sie den Menschen aus dem Ganzen herauslöst. Sie sei jedoch ein Gewinn, insofern sie die Chance zur wachsenden Distanzierung von Raum und Zeit und damit zur Überwindung des Raumes und der Zeit, zur Gewinnung der Raum-Zeit-Freiheit birgt, womit wieder der Grundgedanke Gebsers berührt ist.

Am Schluss von Gebsers Hauptwerk findet sich das Kapitel Das tägliche Leben. Dort kann und muss sich bewähren, was wir als Wahrheit wahrgenommen haben.

Jean Gebser Gesellschaft

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Geschrieben von

Nil

Die gegenwärtige Krise ist in Wirklichkeit eine Krise der Wahrnehmung und Wahrgebung - Ken Wilber https://www.freitag.de/autoren/nilnilnil

Nil

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