Europas Zukunft? Die Menschenrechte! Das Tolle an dieser Vision sei, dass sie „auch für müde und besiegte Menschen wahr bleibt“. So idealistisch blickte Peter Sloterdijk, einer der einflussreichsten deutschen Philosophen, 1994 in die Zukunft. Aus dem einstigen Menschenrechtsuniversalisten ist in diesen Tagen ein Zyniker geworden. Einer, der für jene „müden und besiegten Menschen“, die aus Syrien oder Afghanistan nach Europa kommen, nur noch den Schlagbaum übrig hat. Forderte er nämlich vor einiger Zeit bereits eine „wohltemperierte Grausamkeit“ in der Einwanderungspolitik, legte er jüngst im Magazin Cicero nach: Hierzulande herrsche „Grenzenvergessenheit“. Die „Kultur der dünnwandigen Container“ müsse wieder zu einer der „starkwandigen Grenzen“ werden.
Kaum waren Sloterdijks Einlassungen erschienen, machten sich Frauke Petry und Beatrix von Storch gleichsam auf den Weg, die Idee „starkwandiger Grenzen“ radikal zu Ende zu denken, indem sie offen über Gewalt gegen Flüchtlinge orakelten. Erstere forderte, Asylsuchende, die aus Richtung Österreich kämen, unbedingt aufzuhalten. Und dabei müsse man eben „notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz.“ Beatrix von Storch sekundierte auf ihrem Facebook-Account: „Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer. Und gegen Angreifer müssen wir uns verteidigen.“ Auf die Nachfrage eines Users, ob sie denn auch auf Frauen und Kinder schießen lassen wolle, antwortete sie bündig: „Ja.“
Mittlerweile ist die AfD zurückgerudert. Sei alles nicht so gemeint gewesen, natürlich wolle man nicht auf wehrlose Flüchtlinge schießen. Zumal dies – entgegen Petrys Behauptung – rechtlich auch gar nicht möglich ist. Es gibt zwar tatsächlich das 1961 in Kraft getretene „Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes“, doch dieses sieht den etwaigen Einsatz von Schusswaffen nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen vor. Betreffende Personen müssen sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben und gleichzeitig im Begriff sein, sich der Kontrolle zu entziehen. Beides trifft auf illegal einreisende Flüchtlinge nicht zu. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) gab eigens eine Pressemitteilung heraus und betonte, dass Petrys „Ultima Ratio“-Forderungen keinerlei juristische Grundlage besäßen, sondern die Partei vielmehr ihr „radikales und menschenverachtendes Gedankengut“ entlarvt habe.
Wobei auch gleich Stimmen laut wurden, die betonten, dass Petry und Storch ja eigentlich nur aussprächen, was all jene, die hierzulande eine Obergrenze fordern, stets mehr oder weniger mitmeinten, aber eben nicht aussprechen wollten. Das mag in einigen Fällen sogar stimmen. Es übersieht aber einen wesentlichen Punkt. Der AfD ging es hier um eine sehr spezifische Botschaft. Wenn Beatrix von Storch nämlich ein hypothetisches Szenario entwirft, nur um Asylsuchende als „Angreifer“ zu apostrophieren, so ist das eine Form der Täter-Opfer-Umkehr, die in ihrer Perfidie nur schwer zu überbieten ist. Zudem wird die Flüchtlingskrise auf metaphorischer Ebene zum Krieg erklärt, es werden Flüchtlinge zu Feinden gemacht.
Das ist eine Militarisierung des Denkens, die in der Tradition Carl Schmitts, des einstigen „Kronjuristen des Dritten Reichs“, steht. Zumindest bei Hardcore-Anhängern der AfD, davon darf man ausgehen, wird die Botschaft angekommen sein. Dementsprechend ist es nötiger denn je, dass die Demokratie diesen menschenverachtenden AfD-Zynismus kollektiv zurückweist. Und es ist gut, dass die Reaktionen in Politik und Medien nahezu einhellig empört bis angewidert ausfielen. Dass selbst Polizeigewerkschaften ungewöhnlich deutlich reagierten, darf man als ermutigendes Zeichen werten.
Allerdings hat die Debatte auch eine Kehrseite, die nicht nur darin besteht, dass die rhetorische Brutalisierung von Petry und Storch in den sozialen Netzwerken auch bejubelt wurde. Die AfD hat zynisch in eine Wunde gegriffen. Das Schmerzhafte an der aktuellen Diskussion besteht nämlich auch darin, dass die Zurückweisung des radikalen AfD-Zynismus auf der Folie eines wiederum strukturellen Zynismus erfolgt. Konkreter: Man wird hierzulande, geschweige denn im Rest Europas, so gut wie keinen Politiker finden, der prinzipiell nicht betonen würde, dass die Flüchtlingszahlen stark gesenkt werden sollen. Sei es innerhalb von Monaten oder Jahren. Debattiert wird eigentlich nur die Frage nach dem Wie. Gegenüber nationalen Grenzschließungen hat Merkels Ansatz, der vorrangig darin besteht, der Türkei so viele politische und finanzielle Zugeständnisse zu machen, dass sie die meisten Flüchtlinge gar nicht weiter nach Europa ziehen lässt, zweifellos viele Vorteile: Schengen bliebe intakt, im Balkan stauten sich nicht Hunderttausende Flüchtlinge, Griechenland würde kein failed state. Aber selbst wenn das aufginge, würden Menschen weiter flüchten, würden sterben und in überfüllten Lagern hungern. Es wird jene „wohltemperierte Grausamkeit“ geben, die Sloterdijk zynisch forderte. Nur eben weiter weg. Und im Prinzip wissen das auch alle. Der Zynismus, er ist längst strukturell geworden. Es gibt zu diesem Thema auch ein hervorragendes Buch von Sloterdijk, es ist eines seiner ersten: Die Kritik der zynischen Vernunft.
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