„Wir sind immer noch erschüttert über das, was uns getroffen hat. Aber wir geben niemals unsere Werte auf. Unsere Antwort ist: mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität. Aber nie Naivität. Keiner hat das besser als das AUF*-Mädchen formuliert, das von CNN interviewt wurde: 'Wenn eine Person so viel Hass zeigen kann, bedenken Sie, wie viel Liebe wir zeigen können, wenn wir alle zusammenstehen.'“ So sprach Jens Stoltenberg, der damalige norwegische Ministerpräsident, am 24. Juli 2011, zwei Tage nachdem der Rechtsextremist Anders Behring Breivik im Zentrum Oslos und auf der Insel Utøya Anschläge verübt hatte, bei denen insgesamt 77 Menschen ums Leben kamen.
Dieser Tage, nachdem über 120 Menschen bei islamistischen Terrorattacken in Paris getötet wurden, sollte man sich an Stoltenbergs Rede erinnern. Und daran, wie viel Respekt und Anerkennung die Welt dieser Reaktion damals zollte. Denn auch heute ist es das Gebot der Stunde, sich vom Hass nicht die Liebe nehmen zu lassen. Nun werden das vermutlich nicht wenige Menschen, auch fernab von AfD und Pegida, für naiv, ja vielleicht sogar für gefährlich halten. Für eine falsche Pathosformel, in der sich „Gutmenschen“ einrichten, um der buchstäblich brutalen Realität nicht ins Auge schauen zu müssen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall.
Vorbild Norwegen
„Konfrontiert mit dem Krieg“, so sagte der französische Präsident François Hollande gestern, „muss die Nation angemessene Maßnahmen ergreifen.“ Das heißt in der Tat zum einen, dass die Demokratie sich insofern als wehrhaft erweisen muss, als dass sie ihre Bürger bestmöglich vor Gewalt und Terror zu schützen hat. Doch sie darf das wiederum nicht um jeden Preis tun. Würde beispielsweise die Überwachung der Bürger total, so wie es schrittweise gerade in Großbritannien passiert, bliebe am Ende von dem, was wir in Europa zu Recht als so schützenswert erachten, nicht mehr viel übrig. Oder in den Worten des Philosophen Karl Jaspers: „In der Freiheit ist zwar das Verderben groß, das völlige Verderben möglich. Ohne Freiheit aber ist das Verderben gewiss.“
Zum zweiten gehört zu diesen angemessenen Maßnahmen aber auch, dem Hass mit Liebe und Zusammenhalt zu antworten. So wie es Norwegen nach den Anschlägen Breiviks tat. Denn was könnte dem terroristischen Versuch, Feindschaft und Zwietracht zu säen, mehr widersprechen als dies? Dementsprechend darf Europa sich auch gerade jetzt nicht den Asylsuchenden aus Syrien und Irak verschließen, fliehen diese doch vor derselben Art barbarischer Gewalt. Reagierte man hingegen mit kollektivem Misstrauen, Furcht und Ressentiments, vollendete man - unwillentlich - nur das Werk der Terroristen. Deshalb sind Zusammenhalt, Solidarität und Liebe also auch nicht naiv, sondern die beste und wirksamste – und übrigens auch urchristliche – Antwort einer demokratischen Gesellschaft auf den Terror.
Keine Militarisierung des Denkens
Man darf den Diskurs also nicht jenen überlassen, die im Namen des Ressentiments ein Regime der Gleichen heraufbeschwören wollen, eine Gesellschaft, die ihre größte Stärke, die innere Pluralität, zugunsten einen repressiven Identitätsdenkens aufgibt. „Wenn die Logik der Identität vorherrscht“, so schreibt der französische Philosoph Alain Badiou in seinem 2009 im Original erschienenen Band Lob der Liebe, „dann ist per Definition die Liebe gefährdet.“ Denn, so Badiou weiter: „In der Liebe vertraut man zumindest dem Unterschied, anstatt ihn zu verdächtigen. In der Reaktion verdächtigt man immer den Unterschied im Namen der Identität, das ist ihre allgemeine Philosophie. Einer der praktikablen Punkte der individuellen Erfahrung, dafür, uns im Gegenteil dem Unterschied zu öffnen und dem, was er impliziert, nämlich dass die Gemeinschaft fähig ist, eine der gesamten Welt zu sein, ist nun die Verteidigung der Liebe.“
Wie gesagt: Es mag in manchen Ohren pathetisch klingen, doch die Verteidigung der Liebe ist in der Tat die Aufgabe unseres Zeitalters. In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten wird vielfach das freiheitliche Wertesystem beschworen werden. Es wird gesagt werden, dass wir, die Europäer, uns nicht einschüchtern lassen dürfen. Man wird es zu Recht sagen, aber diese Forderungen müssen dann eben auch ernst genommen werden. Und das heißt wiederum, dass das, was Europa so einzigartig macht, weshalb nicht zuletzt Hunderttausende hier ihre Zuflucht suchen, nämlich Frieden, Freiheit und Vielfalt, nicht durch eine Militarisierung des Denkens aufgegeben werden darf. Oder wie es der Philosoph Karl Popper 1945 in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde formulierte: „Wir müssen für die Freiheit planen und nicht für die Sicherheit, wenn auch vielleicht aus keinem anderen Grund als dem, dass nur die Freiheit die Sicherheit sichern kann.“
*AUF, Arbeidaranes Ungdomsfylking, ist die Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokratie, die das Ziel von Breiviks Anschlag auf Utøya war.
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