Als Anfang April die Nachrichtenagenturen vermeldeten, dass in Deutschland die Buntstifte knapp werden und dass in der Branche Sonderschichten notwendig seien, um den Bedarf zu decken, sind vermutlich bei vielen die Augenbrauen hochgewandert. Der Grund für die drohende Mangelwirtschaft ist nämlich ein Trend, der, sagen wir, eigentümlich wirkt: Adult Coloring. Oder übersetzt: Malbücher für Erwachsene. Im angloamerikanischen Raum, aber auch in China und Brasilien erfreut sich diese Form des postkreativen Kunsthandwerkens indes schon seit Jahren großer Beliebtheit. Der unangefochtene Star des Buntstiftbooms ist dabei Johanna Basford. Die 33-jährige Schottin, die mit Mein Verzauberter Garten und Mein Zauberwald die zwei Standardwerke der Ausmalavantgarde kreierte, hat weltweit bereits über 16 Millionen Bücher verkauft.
Infantilistischer Ethos
Eine Reihe anderer Illustratoren taten es ihr nach und veröffentlichen filigrane Vordrucke von Blumen, Tieren oder Ornamenten. Viele Spielarten des Adult Coloring haben zwar schon eine lange Tradition, etwa in Gestalt indischer Mandalas. Aber ihr jüngster Siegeszug erklärt sich damit, dass sie nun als therapeutische Beschäftigungstherapie der neoliberalen Müdigkeitsgesellschaft vermarktet werden: Buntstifte gegen den Burn-out. Deshalb tragen viele Bücher nicht nur Buzzwords wie „Entspannung“ oder „Anti-Stress“ bereits im Titel, sondern selbst die Apotheken-Umschau informierte kürzlich über die beruhigende Wirkung des Ausmalens und bot auf ihrer Webseite kostenlose Vorlagen zum Ausdrucken an.
Die Feuilletons reagierten auf den Trend weitestgehend mit einer Mischung aus Häme und Kulturkritik. Die Süddeutsche Zeitung sah den Hype ums Ausmalen etwa als Ausdruck der „Infantilisierung der Gesellschaft“, Cicero diagnostizierte „postmodernen Eskapismusquatsch“, während Zeit Online konstatierte: „Mit Adult Coloring richtet sich der Mensch ein in seiner Degeneration: zu viel Arbeit, zu viel gedankliche Zerstreuung, zu viel virtuelles Leben.“ Ähnlich urteilte die amerikanische Presse. Im New Yorker erkannte die Publizistin Susan Jacoby einen kulturellen Paradigmenwechsel hin zur infantilen Regression, derweil die Washington Post bemerkte, dass man nun die analoge Quittung für die digitale Verdummung bekomme.
Aber ist Adult Coloring tatsächlich ein alarmierender Ausdruck für eine fortschreitende Infantilisierung, ja gar Teil einer neoliberalen Sedierungsstrategie? Vorläufig ließe sich sagen, dass in den letzten Jahren zumindest eine ganze Reihe von Publikationen erschienen sind, die diese These zu stützen scheinen. In seinem bereits 2007 veröffentlichten Buch Consumed! – Wie der Markt Kinder verführt, Erwachsene infantilisiert und die Demokratie untergräbt diagnostiziert der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber im Westen ein kollektives Peter-Pan-Syndrom, also den gemeinschaftlichen Rückfall in kindliche Verhaltensmuster.
Der Kapitalismus entfessele einen „infantilistischen Ethos“, da er aufgrund seines Wachstumszwangs stetig neue, künstliche Bedürfnisse erzeugen müsse. Zeichnete sich der Markt vormals noch durch Verbraucherorientierung aus, durch ein rationales Verhältnis von Angebot und Nachfrage, habe das Zeitalter des Neoliberalismus einen Hyperkonsumismus eingeläutet, der die weitestgehende Sättigung der Grundbedürfnisse mit einer Art Bullshit-Industrie kompensiere, die buchstäblich jeden Scheiß verkauft. Erwachsene konsumierten permanent „Fast Food und schwachsinnige Filme, aufgedrehten Zuschauersport und verdummende Videospiele“, was ein narzisstisches Streben nach Verantwortungsfreiheit kultiviere, das die Demokratie langfristig untergrabe.
Ein ähnliches Urteil fällte jüngst auch der in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Robert Pogue Harrison, der in seinem 2014 erschienenen Buch Juvenescence das titelgebende „Jüngerwachsen“ (statt Heranwachsen) beklagte. Die in Potsdam forschende Philosophin Susan Neiman richtete sich in ihrem im selben Jahr erschienenen Essay Warum erwachsen werden? ebenfalls gegen das infantile Kurzfristigkeitsdenken und plädierte für die kantianische Balance aus Sollen und Sein.
Nun findet sich in all diesen Büchern Erhellendes, zumal ihren jeweiligen Plädoyers für eine mündige Verantwortungsethik niemand widersprechen wollte. Die Frage ist nur, ob die Analyse in ihrer Grundsätzlichkeit denn so stimmt. Anders gesagt: An der Klage der vermeintlich infantilisierten Gesellschaft ist vieles nicht falsch, aber vieles auch nicht wirklich richtig. Im Fall des Adult Coloring könnte man etwa sagen, dass die Kritik an Erwachsenen-Malbüchern bisweilen eher ein Problem der Kritik als eines der Malbücher zu sein scheint. Denn abgesehen davon, dass keinesfalls klar ist, was das Ausmalen in puncto Eskapismus von Häkeln, Puzzlen oder gar der Lektüre eines Schweden-Krimis unterscheiden sollte, ließe sich fragen, ob im Adult Coloring nicht auch etwas Subversives steckt.
Besteht der Imperativ des postmodernen Kapitalismus in der permanenten Selbstoptimierung, erscheint eine Tätigkeit, bei der man nichts können muss und keine „Leistung“ erbringt, doch wie eine sanfte Verweigerung gegenüber dem Kreativitätsdruck der Gegenwart. Jedenfalls lässt sich nicht so einfach feststellen, aus welchem Grund und mit welchem Effekt Menschen florale Muster ausmalen, sich Game of Thrones angucken oder Figuren aus Überraschungseiern sammeln.
Auf eindrückliche Weise hat dies Daniel Miller in seinem 2010 erschienenen Buch Der Trost der Dinge gezeigt. Der britische Anthropologe besuchte nämlich 100 Haushalte einer Londoner Straße und befragte die Bewohner über das Verhältnis zu ihrer Umwelt. Dabei illustriert Miller, dass die vermeintliche Zunahme eines oberflächlichen Konsumismus keineswegs so eindeutig ist, wie notorische Kulturpessimisten meinen. Miller berichtet beispielsweise von Marina, einer alleinerziehenden Mutter, die ob der emotionalen Kälte ihrer Kindheit ein Bedürfnis verspürt, sich von ihren snobistischen Eltern abzugrenzen.
Der Trost der Dinge
Das enthusiastische Sammeln der Happy-Meal-Figuren von McDonald’s avancierte für sie und ihre eigenen Kinder deshalb zum innigen Ritual. Ein anderer Fall ist Sharon, eine Soziologin, die in ihrer Freizeit Wrestling betreibt, den wohl infantilsten Sport, den man sich vorstellen kann. Gleichwohl erliegt sie dabei keiner kindlichen Regression, sondern hat dadurch einen Weg gefunden, das schwierige Verhältnis zum eigenen Körper zu verbessern. Millers Schlussfolgerung lautet deshalb, „dass man niemals im Vorhinein wissen kann, welche Art von Dingen für einen Menschen bei der Entwicklung erfüllender Beziehungen entscheidend ist“.
Das heißt nicht, dass man dem anything goes huldigen müsste, dass es keinen Unterschied zwischen Prokofjew und Promi-Boxen, Kafka und den Kastelruther Spatzen gäbe. Es heißt aber schon, dass die Kulturkritik ihre Gegenstände insofern ernst nehmen muss, als dass sie diese nicht nur zur reflexhaften Bestätigung der eigenen Theorie gebraucht. Dank des langen Schattens der Frankfurter Schule ist das hierzulande aber noch oft der Fall. Trompetete Adorno bekanntlich gegen Jazz und erkannte im Fußball eine Art protofaschistische Versuchung, stehen Popmusik, Massensport und Privatfernsehen an manch bildungsbürgerlichen Stammtischen bis heute unter chronischem Verdummungsverdacht. Wobei sich diese Distinktionspirale freilich weiterdreht. Denn selbst dort, wo Fußball und Trash-TV mittlerweile als salonfähig gelten, lacht man nun über die Ausmalbücher.
Wenn man nun aber sehr wohl Hegel lesen und danach ins Stadion gehen kann, um den Schiri anzuschreien – warum sollte Ähnliches nicht fürs Adult Coloring gelten? Bisweilen wirkt es so, als ob die Kulturkritik sich derart in Reflexen eingerichtet hat, dass sie sich für jene gesellschaftlichen Mikrokosmen, die sie zu beschreiben versucht, eigentlich nicht mehr wirklich interessiert. Würde sie das tun, müsste sie nämlich eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen anerkennen, also akzeptieren, dass ihre Gegenstände ambivalent sein können, dass nicht hinter jeder Abseitigkeit gleich ein „falsches Bewusstsein“ lauert.
Man kann bezweifeln, dass Adult Coloring einen wirklich entspannt (Ein Amazon-Rezensent eines Erwachsenen-Malbuchs urteilt etwa: „... nach ner zeit wurds glaub ich langweilig also so wirklich für stress raus kann ich es nicht empfehlen“). Ebenso kann man Adult Coloring dämlich finden. Das wäre zwar nachvollziehbar, aber eben auch nur eine Form der Distinktion, noch keine plausible Kulturkritik.
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