Wer dieser Tage durch die außengastronomisch aufgerüsteten Straßen stromert, mag zu jener lebensphilosophischen Einsicht gelangen, die Peter Sloterdijk in seinen Tagebüchern auf den Punkt brachte: „Wahrheit ist keine Eigenschaft von Sätzen, sondern Sommertagen.“ Sicher: Die Pandemie ist noch nicht vorbei, eine vierte Welle zumindest nicht ausgeschlossen. Hat jedoch selbst der SPD-Politiker Karl Lauterbach mit seiner Pandemieprognose („Der Sommer wird gut“) kürzlich eine epidemiologische Aussicht auf wohltemperiertes Ausschweifen erteilt, dürften die kommenden Monate im Zeichen einer hedonistischen Renaissance stehen.
Doch bringt dieser Durst nach Exzess zumindest in den Städten ein gesteigertes Konfliktpotenzial im öffentl
urch die außengastronomisch aufgerüsteten Straßen stromert, mag zu jener lebensphilosophischen Einsicht gelangen, die Peter Sloterdijk in seinen Tagebüchern auf den Punkt brachte: „Wahrheit ist keine Eigenschaft von Sätzen, sondern Sommertagen.“ Sicher: Die Pandemie ist noch nicht vorbei, eine vierte Welle zumindest nicht ausgeschlossen. Hat jedoch selbst der SPD-Politiker Karl Lauterbach mit seiner Pandemieprognose („Der Sommer wird gut“) kürzlich eine epidemiologische Aussicht auf wohltemperiertes Ausschweifen erteilt, dürften die kommenden Monate im Zeichen einer hedonistischen Renaissance stehen.Doch bringt dieser Durst nach Exzess zumindest in den Städten ein gesteigertes Konfliktpotenzial im XX-replace-me-XXX246;ffentlichen Raum mit sich. Das zeigt sich zum einen in den Ausschreitungen zwischen Partyvolk und Polizei, wie sie zuletzt in Hamburg oder Stuttgart stattfanden. Die Behörden der Hansestadt fuhren dabei in einer gleichermaßen grotesk anmutenden wie sicherheitspolitisch völlig übersteuerten Drohgebärde sogar Räumpanzer und Wasserwerfer gegen die Feiernden auf.Zum anderen offenbart sich diese Konkurrenz schlicht als Platz- und Akustikproblem. Drängen derzeit nämlich alle möglichen Akteure auf die Straßen und Plätze, auf die Terrassen der Cafés und Bars, zu den Außenevents von Kulturinstitutionen oder im Zuge von spontanen Minifestivals in Parks, wird es zunehmend eng und laut, zumal an diesem Wochenende ja auch noch die Fußball-Europameisterschaft mit dem obligatorischen öffentlichen Rudelgucken beginnt.Nun würde man jeden, der sich über diese Wiedererweckung des öffentlichen Lebens nicht freut oder gar bei der ersten Gelegenheit das Ordnungsamt ruft, zu Recht eines missgelaunten Spießertums verdächtigen – zumindest dann, wenn die Abstandsregeln einigermaßen eingehalten werden. Trotzdem wirft die Konkurrenz um den öffentlichen Raum eine Reihe von Fragen auf, die tiefer reichen und grundsätzlicher sind. Oder anders gesagt: Die oft widerstreitenden Interessen zwischen Anwohnern und Partyvolk, die nun nach Monaten des Lockdowns wieder aufbrechen, sind nur die Spitze des schmelzenden Eisbergs.Dass nämlich selbst relativ kleine raumpolitische Eingriffe große Fragen der urbanen Ordnung aufwerfen, kann man derzeit gut in Berlin beobachten. Gegenwärtig können Cafés und Bars dort dank Absperrgittern auch jene Teile der Straße für ihre Zwecke nutzen, die zuvor als Parkplätze für Autos dienten. Damit steht ja mindestens indirekt zur Debatte, ob dies nur eine pandemisch bedingte Ausnahme bleibt, oder vielleicht zum Regelfall werden sollte. Zumal es einem als Fußgänger oder Fahrradfahrer ja generell absurd erscheint, wie viel vom knapp bemessenen Stadtraum für die Autos reserviert ist.Doch obwohl grundsätzlich klar ist, dass der urbane Individualverkehr drastisch reduziert werden muss, braucht es dafür nicht nur einen massiven Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Vielmehr stecken die damit verbundenen Verteilungskonflikte oft im Detail, etwa wenn es um die Interessen der Pendler geht.Sind derlei verkehrspolitische Herausforderungen im Prinzip eigentlich gut zu handhaben, tritt mit der aktuellen Renaissance des öffentlichen (Feier-)Lebens ein weiteres Thema auf den Plan, das in den vergangenen Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hat. Gemeint ist die alte Frage: Wem gehört die Stadt?Dabei geht es nicht nur um die sozialen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, die mit den horrend steigenden Mieten verbunden sind; es geht auch um die Eigentumsfrage an sich, so wie sie etwa die Kampagne „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ in Berlin adressiert. Aber dieses Thema dreht sich eben nicht nur ums Wohnen, sondern auch darum, wie sich die Menschen im städtischen Raum aufhalten und bewegen können.Dreckig, vermüllt, lautIn ihrem 2007 erschienenen Band Stadtpolitik resümierten die Soziologen Hartmut Häußermann, Dieter Läpple und Walter Siebel bereits: „Einhausung, juristische Privatisierung, Auflösung der Codes urbanen Verhaltens, Überwachung und exklusive Gestaltung – es gibt viele empirische Belege für die These von der Privatisierung des öffentlichen Raumes, und diese Veränderungen werden zu Recht als Bedrohung der Öffentlichkeit städtischer Räume kritisiert.“Dass sich dieser Trend seitdem verstärkt hat, kann man etwa am Berliner Mercedes-Platz beobachten, der sich neben der ebenfalls nach dem Autohersteller benannten Arena unweit der East Side Gallery in unmittelbarer Nähe der Spree befindet. Dieser von Systemgastronomie und Werbebildschirmen umgebene Raum ist die architektonische Verlängerung der Shopping-Mall in den öffentlichen Raum, in der die Stadt auf eine begehbare Werbe- und Konsumfläche reduziert wird.Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen vermag man die mittlerweile wieder vereinzelt aus den Parks und Grünanlagen wummernden Bässe oder das unsortierte Public Viewing vor dem Späti zunächst einmal als willkommene Signale für eine andere, nicht-durchkapitalisierte Form der Öffentlichkeit begreifen, die strukturell eben auch immer chaotisch ist. Sie ermöglicht gerade deshalb Intensitätserfahrungen, die einen zentralen Teil der Urbanität darstellen.Wobei die Dinge auch hier etwas komplizierter liegen. Denn ganz abgesehen davon, dass sich das nächtliche Ruhebedürfnis von Schichtarbeiter:innen oder Familien nicht einfach als Spießertum abqualifizieren lässt, ist die Grenze zwischen großstädtischer Vielstimmigkeit und Ballermannisierung bisweilen schmal. Das mag auch daran liegen, dass man gerade in Berlin mitunter auf eine Vorstellung von Urbanität trifft, die genau besehen reichlich provinziell ist, weil sie am Ende auf den ästhetischen Fehlschluss hinauszuläuft, dass nur das als urban gilt, was besonders dreckig, vermüllt und laut ist.Neben den handfesten sozioökonomischen Fragen, die mit dem angespannten Wohnungsmarkt entstanden sind, stehen die Metropolen nach monatelanger Coronaruhe vor dem Problem des, um einen Begriff Peter Sloterdijks zu gebrauchen, urbanen „Atmosphärendesigns“. Wobei die Konkurrenz um Raum- und Schallverhältnisse jedoch nur das Vorspiel für eine noch viel größere Herausforderung sein dürfte. Hatte Stadtpolitik nämlich schon immer eine klimatologische Komponente, etwa bei der Vermeidung von giftigen Abgasen in Armenvierteln oder der Reduzierung von Feinstaub an Ausfallstraßen, sind Metropolen nun ganz besonders mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert. Einer 2019 veröffentlichten Studie der ETH Zürich zufolge könnte das Klima in Berlin im Jahr 2050 dem im heutigen Canberra ähneln, in Hamburg wäre es so warm wie in San Marino.Sommer in der Shopping-MallDrohen Städte also buchstäblich zu ökologischen Brenngläsern zu werden, avanciert die urbane Air Condition zu einer der größten Aufgaben der kommenden Jahrzehnte, die wiederum nicht nur eine teilweise Restrukturierung des öffentlichen Raums nötig machen wird, etwa durch notwendige Begrünungen und das Einziehen von Luftschneisen, sondern grundsätzlich zur Disposition stellt, wem die Stadt gehört.Denn gerade weil momentan so ein sommernachtsträumerisches Gefühl über den Städten liegt, muss man sich vergegenwärtigen, dass dies aus langfristiger, makroklimatologischer Perspektive trügerisch ist. Sollten sich Metropolen nämlich tatsächlich so aufheizen, drohen texanische Verhältnisse. Das heißt: In den Sommermonaten ließe sich so etwas wie Öffentlichkeit dann praktisch nur noch in durchklimatisierten Shopping-Malls und Einkaufspassagen herstellen. Drinnen also.Sollte man dieser Tage abends in der Außengastronomie oder im Park mit Freunden sitzen, wäre es womöglich kein schlechter Zeitpunkt, einmal über die Frage nachzudenken, ob nach der aktuell völlig berechtigten Freude, dass in diesen Sommernächten „endlich wieder alles beim Alten“ zu sein scheint, in Zukunft nicht eben doch vieles anders, nämlich besser werden sollte. Oder aus einem Rückblick aus der Zukunft formuliert: zumindest weniger schlimm.Placeholder authorbio-1
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