Videogames zocken mit Kleinkind: Gefährlich oder etwa doch sinnvoll?
Medienkompetenz Unsere Autorin Nora Beyer spielt mit ihrem zweijährigen Sohn ein Videogame, das eigentlich nicht für Kinder ist. Macht sie das zur schlechten Mutter oder kann man mit dem Thema gar nicht früh genug anfangen? Eine Erkundung
In „Dredge“ dem Angel-Game des Entwicklers Salt Lake Games kann „Schiff fahren“ ziemlich düster werden
Abb.: Team17 Digital/Black Salt Games
„Schiff fahren!“, lispelt es von unten. Es ist schon ein Ritual. Mein kleiner Sohn, etwas über zwei Jahre alt, zieht an meinem Pulli, klettert auf den viel zu großen Gaming-Stuhl vor dem noch viel größeren Bildschirm und schaut mich erwartungsvoll an. Ehrlich, das wollte ich so nicht. Während meiner Schwangerschaft habe ich mich extra in Büchern zum Thema eingegraben. Als Games-Journalistin habe ich neben dem üblichen Sodbrennen auch gleich noch Schweißausbrüche wegen des potenziell katastrophalen Medienkonsums meines Kleinkinds bekommen. Ich habe sie alle gelesen, die Rotstift-Ausrufezeichen-Empfehlungen der Broschüren und Bücher. Dann hatte ich eines Tages vergessen, die Tür zu schließen, als ich im Arbeitszimme
mmer zur Vorbereitung auf einen Artikel, versunken im Spiel war. Und jetzt sitzt er da, mein Fastnoch-Baby und will „Schiff fahren!“. Schon wieder.„Schiff fahren!“, steht bei uns für das Angelspiel Dredge. Es erschien 2023 und wurde vom neuseeländischen Indie-Entwickler Black Salt Games entwickelt. Klingt zunächst unschuldig. Nur: Ein Kinderspiel ist das nicht. Man erkundet mit einem bauklotzartigen Fischerboot ein abgelegenes Archipel und verkauft in Häfen den gefangenen Fisch. Schnell entwickelt das Spiel düstere Untertöne. Bei Nacht und wenn man übermüdet in See sticht, suchen geisterhafte Formen die schwarze See und Halluzinationen die Spielfigur heim. Mutierte, entstellte Fische warten im Wasser und bald stellt sich heraus, dass die Artefakte, die als Spielziel gefunden werden müssen, diabolische Dimensionen haben.Eingebetteter MedieninhaltMein Sohn schippert auf meinem Schoß durch die unheilvoll-sehnsüchtige Spielwelt. Irgendwo zwischen Melancholie des prekären Fischer*innen-Daseins und Edgar-Allan-Poe´schem Grusel. Er ist ausnahmslos begeistert. Das Kind will immer und immer wieder „Schiff fahren!“ und nichts kann ihn davon abhalten. Zumindest versuche ich, die Nächte und gruseligen Momente im Spiel im wahrsten Sinne des Wortes zu umschiffen. Dabei höre ich das konstante Hämmern meines Über-Ichs im Kopf: Du schlechte Mutter!Medienerziehung muss zur Familie passenHöchste Zeit Hilfe zu suchen. Was ist eigentlich ein gesunder Medienkonsum für Kinder? Meine Anlaufstellen: Dr. Iren Schulz und Sonja di Vetta. Schulz berät Eltern und Erziehungspersonen für die Initiative SCHAU HIN! Was Dein Kind mit Medien macht. Di Vetta ist Sozialpädagogin und Geschäftsführerin bei SIN – Studio im Netz. Schulz stellt gleich klar: „Es gibt nicht die eine Formel. Auch die offiziellen Empfehlungen sind nur eine Orientierung. Das heißt nicht, dass man die Stoppuhr danach stellen soll.“ Grundsätzlich gelten zwei Dinge: Medienerziehung müsse immer zur jeweiligen Familie passen. Zweitens: Jedes Kind ist unterschiedlich. Wichtig sei, sich selbst zu hinterfragen, erklärt di Vetta: „Man kann erstmal die Frage stellen: Welche Haltung habe ich gegenüber Medien?“ Eltern, die selbst keine Games spielen, täten sich naturgemäß schwerer damit, diese bei den Kindern zu begrüßen. „Andere Familien“, so di Vetta, „sind offen gegenüber Videospielen. Denen wird es leichter fallen, einen aktiven, gemeinsamen Umgang zu finden.“Dann ist mein Kind einfach schon wegen seiner Mama bereit für apokalyptische Angelspiele? Di Vetta bremst die Euphorie: „Es ist nachvollziehbar, worin der Reiz bei Dredge für ein zweijähriges Kind liegt. Es geht um das Rumfahren mit dem Schiffchen. Aber das Spiel entwickelt eine unheimliche Atmosphäre.“ Für ein kleines Kind sei das definitiv nichts. Auch Schulz ist ehrlich: „Allein, wenn ich mir die düstere Farbwelt anschaue, wird das für die meisten Kinder harter Tobak sein.“ Aber: „Es ist erstmal nicht schlimm, wenn das Kind das Spiel so szenenhaft sieht“, beruhigt mich di Vetta. Allerdings: Für ein gemeinsames Spielen empfiehlt di Vetta alternative, altersgerechte Angebote.Vor allem ruhige, unaufgeregte Spiele seien zu bevorzugen. Etwa die App Meine kleine Raupe Nimmersatt, die einige Preise, darunter den Bologna Ragazzi Digital Award und den Kidscreen Award, gewonnen hat. Oder die interaktive Geschichte Kleine Eule – Reime für Kinder von der Berliner Kinder-App-Schmiede Fox & Sheep. Für Kinder, die das Thema Schiffe fahren begeistert, hat sie einen Tipp: die Wimmelbild-App Meine Piraten vom Studio wonderkind – ebenfalls aus Berlin. Beide Apps sind mit dem Pädagogischen Medienpreis ausgezeichnet, mit dem jährlich empfehlenswerte digitale Angebote für Kinder und Jugendliche prämiert werden. Iren Schulz empfiehlt außerdem die KiKANINCHEN-App – ein exploratives Spiel von ARD und ZDF für Kinder ab drei Jahren.Probleme der Online-SpieleDann also nie wieder „Schiff fahren“? Immerhin: Positiv sei der Ansatz, gemeinsam zu spielen. „Ich rate, gerade anfangs immer gemeinsam zu spielen. Vorher sollte man sich das Spiel natürlich erstmal anschauen. Ein Gefühl dafür bekommen“, meint Schulz. Und di Vetta sagt: „Grundsätzlich ist das für uns in der Medienpädagogik der beste Fall: Wenn Familien gemeinsam spielen und das Spielen aktiv begleiten.“ Hilfreich sei immer auch, das Spiel erstmal selbst zu spielen, und auf Dinge zu achten wie: „Was ist das Spielziel? Wie wird mit Gewalt, Rollen- und Weltbildern, Klischees und Mystik umgegangen?“, so Schulz.Gerade jüngere Kinder seien von komplexen Inhalten, schnellen Schnitten, mehreren Handlungssträngen und längeren Aufmerksamkeitsspannen schnell überfordert. Zudem wirke bei Spielen im Gegensatz zu etwa Trickfilmen die Interaktivität als verstärkender Faktor. Aber es geht noch weiter. Wenn die Kinder größer werden, fangen die (digitalen) Probleme erst an: „Heute gibt es bei Spielen noch viel mehr Herausforderungen – Stichwort Interaktionsrisiken, Cybergrooming und Dark Patterns sind ein großes Thema“, so Schulz. Gerade Online-Spiele mit Chats und vermeintliche Gratis-Spiele, die häufig zum Geldausgeben motivieren, sollte man gut im Auge behalten. Andererseits haben Spiele durch ihre Interaktivität auch positive Seiten, meint di Vetta: „Man erlebt Selbstwirksamkeit. Ich tippe etwas an und dann passiert was. Das ist etwas anderes, als sich passiv berieseln zu lassen.“Kinder müssen den Umgang mit Medien lernenAlso: Mediennutzung ja, aber gerade bei jüngeren Kindern in begleiteten, geregelten Bahnen. Wichtig sei vor allem, sich der eigenen Vorbildrolle bewusst zu werden. Das heißt: Authentisch bleiben. Dazu Iren Schulz: „Die eigene Handynutzung hinter einem Buch zu tarnen, ist, wie Schokolade in einen Brokkoli zu stecken.“ Letztlich irreführend und potenziell gefährlich. Denn: „Kinder wachsen heute in einer hochgradig von Medien durchzogenen Welt auf. Wir Familien organisieren unseren ganzen Alltag darüber“, meint Schulz. Warum also verheimlichen? „Da baut man nur eine Scheinwelt auf, die sich nicht aufrechterhalten lässt.“ Und den Kindern nicht zugutekommt. Im Gegenteil: „Damit Kinder in dieser Welt gut zurechtkommen“, so Schulz, „müssen sie den Umgang damit lernen. Das meiste gucken sie sich bei uns Erwachsenen ab. Also brauchen wir einen sinnhaften und guten Medienumgang.“Ich verstehe das so: Meine Arbeit als Games-Journalistin lässt kaum verhindern, dass digitale Spiele in unserem Haushalt allgegenwärtig sind. Ich will den 34-Zoll großen Ultrawide-Bildschirm auch nicht hinter einem Buch verstecken müssen. Hinter welchem auch? Ich folge also dem Ratschlag von Sonja di Vetta und stöbere durch meine Spiele-Bibliothek und suche nach altersgerechten Alternativen. Ich stoße dabei auf Flower. Ein preisgekröntes Indie-Spiel, in dem man den Wind steuert und bunte Blütenblätter über weite Wiesenhorizonte vor sich her treibt. Mohnblumenfelder im Sonnenuntergang, Wildblumenwiesen bei Mondschein. Mein kleiner Sohn und ich als der Wind, der wispernd durchs hohe Gras streicht. In diesem Moment sind wir weit weg von Cybergrooming, InApp-Käufen und dem großen digitalen Unwohlsein. Für den Moment lassen wir Blätter fliegen und das „Schiff fahren!“ wurde nun bei uns abgelöst durch „Wind spielen!“Eingebetteter Medieninhalt
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