Tito, der schon vor dem Krieg konspirativ gelebt hatte und sehr misstrauisch war, vermutete einmal, dass seine jugoslawischen Genossen ihn auffliegen lassen wollten. Als er im Zorn den treuen Milovan Djilas mit dem Verdacht konfrontierte, war der völlig am Boden zerstört. Tief getroffen und mit Tränen in den Augen, mochte der junge Gefährte sich nicht einmal verteidigen. „Aber als die Sitzung beendet und ich noch ganz erstarrt war, kam Tito zu mir und lud mich auf einen Spaziergang ein“, erzählte Djilas von der merkwürdigen Begegnung. Eigentlich habe er an dem Tag im Frühjahr 1940 erwartet, dass „der Alte“, wie ihn alle nannten, sich für seinen ungerechten Ausbruch bei ihm entschuldigen werde. „Aber das tat er nicht.“ Stattdessen fragte Tito Djilas nach seinem Privatleben. „Menschlich und warm“ wurde es. Am Ende ging der Jüngere „zufrieden weg wie ein Kind, dessen Vater erkannt hat, dass er es zu Unrecht bestraft hat, obwohl er es vor ihm nicht zugeben will“.
Never excuse, never explain
Die Episode sagt zunächst etwas über den damals 28-jährigen Djilas aus, der „zufrieden wie ein Kind“ vom Vater geht, weil der nicht mehr zürnt. Charisma entsteht, wie Max Weber erklärt hat, im Dialog zwischen seinem Träger und den Gläubigen, die eine patriarchalische Gesellschaft nun einmal hervorbringt. Zürnen und vergeben, niederschlagen und wieder aufhelfen, beredt schweigen, der alte britische Wahlspruch „Never excuse, never explain“: Alle fallen sie auf die Machttricks dankbar herein. Studieren ließen sich die Regeln Machiavellis im Moskauer Hotel Lux, wo Stalin im Zweiten Weltkrieg die emigrierten Führer des kommunistischen Europas, unter ihnen Tito, wie in einem Versuchslabor beobachtete und gegeneinander aufhetzte.
Aber es kritisiert hier nicht einfach der reife Djilas den jungen. Die menschliche Wärme, an die er sich erinnert, war echt, und sie ging von Tito aus. Willy Brandt, Breschnew, der konservative Skeptiker Churchill und Nasser empfanden dieses Mehr, das Tito bot: Sie alle waren keine Kinder, aber sie suchten und fanden die Freundschaft des „Staats- und Parteichefs“, der von den grausamen Tschekisten der frühen kommunistischen Ära ebenso abstach wie von den grauen Bürokraten der späten. Tito verstand es, nicht nur Genossen, sondern auch Konkurrenten, selbst Opfer und Feinde für sich einzunehmen. Sein jüngster Biograf, Jože Pirjevec, ist selbst ein Beispiel dafür. Wie schon Djilas, der gefallene Engel, kommt auch Pirjevec von Tito zeitlebens nicht los, und das, obwohl er als ethnischer Slowene im italienischen Triest in einem betont titofeindlichen Umfeld aufwuchs. Interessanterweise wirkte Titos rätselhafte Kraft bei Frauen anders als bei Männern. Die kroatische KP-Chefin Savka Dabčević-Kučar reduzierte Tito, nachdem er sie 1971 abgemeiert hatte, auf einen zynischen Machtmenschen. Anstand, Freundschaft, Fair Play, Ehre – das sei ihm alles nur „kleinbürgerlicher Plunder“ gewesen. Über seine Partnerinnen, vor allem seine langjährige Ehefrau Jovanka, sind die Biografen sich einig, dass sie anmaßend und kapriziös waren und dass Tito ihnen gegenüber hilflos war. Die einzige Ausnahme, Herta Haas, wies den Schürzenjäger am Ende in Würde zurück.
Als Sohn eines trunksüchtigen Kleinbauern und seiner frommen Ehefrau hatte Josip Broz, so lautet sein eigentlicher Name, sich seinen Unterhalt schon als Kind selbst verdienen müssen. In seiner Jugend zog er als Wanderarbeiter umher, kam nach Wien, ja, bis nach Essen und lernte Deutsch. Politisiert hat den jungen Schlosser erst seine Zeit als Kriegsgefangener in Russland, für das er stets Sympathie empfand. Bei einer bürgerlichen Familie lernte er Klavier spielen und entzückte damit später Königin Elisabeth II.
Gegen Stalin verhielt sich der willensstarke Tito ganz anders als Djilas gegenüber ihm. Die rohe Jovialität des Sowjetführers ließ er sich zwar wohl oder übel gefallen. In seinen Methoden und in der Diktion unterscheiden die beiden sich anfangs kaum. Anders als Stalin, der sich selbst mit einigem Recht für einen Theoretiker hielt, zog Tito es vor, alles Ideologische an gebildetere Genossen zu delegieren. Die Folge war, dass sich bei Stalins machtpolitischen Schwenks immer auch der ganze ideologische Überbau umwälzen musste. Thesen, die treue Kommunisten gestern noch leidenschaftlich vertreten hatten, wurden über Nacht „konterrevolutionär“ und qualifizierten für den Gulag. Für Tito dagegen war Macht schlicht Macht und Theorie sekundär.
Bei Zurechtweisungen bockig
Im Partisanenkrieg dann entwickelte sich aus dem Unterschied ein Widerspruch. Stalin stand (nach dem fatalen Molotow-Ribbentrop-Pakt und dem Überfall Nazi-Deutschlands 1941) treu zur Anti-Hitler-Koalition mit Briten und Amerikanern. Bei Tito dagegen waren Krieg und Revolution eins – in der richtigen Erkenntnis, dass in Jugoslawien mit den „Bürgerlichen“, sprich: den Nationalisten aller Nationen, kein Befreiungskampf zu organisieren war. Aber nicht der ideologische Unterschied führte im Februar 1948 zum Bruch, sondern Ungehorsam. Die Jugoslawen, die sich selbst von der Naziherrschaft befreit hatten und nicht auf die Rote Armee warten mussten, nahmen sich auf dem Balkan das Recht zu eigenständiger Außenpolitik heraus und blieben bei Zurechtweisungen bockig.
Nach Jugoslawien entzog sich später auch Albanien sowjetischer Bevormundung, und wie Jugoslawien mühte sich noch später auch Rumänien um einen Platz zwischen den Blöcken. Beide Nachbarnationen aber bezahlten die Eigenständigkeit mit umso härterer Repression im Innern. Jugoslawien ging unter Tito als einziges Land einen anderen Weg. Dem Bruch mit Stalin und einem weiteren 1966 folgten je fünfjährige Aufbruchphasen, die weit mehr Fantasie und Hoffnung freisetzten als die lauen Tauwetterperioden im Ostblock. „Arbeiterselbstverwaltung“, „gesellschaftliches Eigentum“, „Blockfreiheit“, „sozialistische Marktwirtschaft“ waren mehr als Schlagworte und elektrisierten den Osten wie den Westen.
Dass ausgerechnet Titos Reich von allen sozialistischen Ländern das schlimmste Ende nahm, entbehrt nicht der Tragik. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre, einer in ganz Europa produktiven Zeit, brach in Jugoslawien eine moderne Politikergeneration auf, probierte Neues aus und schuf in der Jugend eine Identifikation mit dem multinationalen Staat, wie sie zuvor nicht einmal der Partisanenkrieg zuwege gebracht hatte. Aber Tito verstand sie nicht mehr und diktierte dem Land eine konföderale Verfassung, die es bald nach seinem Tode zerfallen ließ.
Pirjevec’ trockene, mehr politische als persönliche Biografie, 2011 im Original erschienen, steht in jedem slowenischen und sogar in jedem kroatischen Bücherregal, und in den Bibliotheken der ärmeren Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist sie immer ausgeliehen und auf Jahre vorgemerkt. Jetzt gibt es das 720 Seiten starke Werk auch auf Italienisch und auf Deutsch. Das Rätsel um Titos Charisma löst es nicht, aber es weist den Weg, wo es zu suchen ist: im utopischen Rest, den alle bei ihm ahnten und der auch in einer ernüchterten, unideologischen Welt nie ganz verschwinden will.
Info
Tito. Die Biografie Jože Pirjevec Klaus Detlef Olof (Übers.), Kunstmann 2016, 720 S., 39,95 €
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