Französisches Tagebuch

Dorfsterben. Das Dorf in der Charente-Maritime, in dem wir den Sommer verleben, stirbt langsam aus. Seit 15 Jahren beobachten wir diesen Prozess. Aber es tut sich auch was.

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Nicht nur unser Dorf rottet vor sich hin. Etliche Nachbardörfer sind ebenfalls von Häuserleerstand und Gebäudeverfall betroffen. In den letzten Jahren hat die Armut beträchtlich zugenommen. Man sieht es besonders an der Vertonnung ganzer Familien, die in Supermärkten und auf den Brocantes ihr immenses Körpergewicht langsam durch die Gegend schieben.

Eine wohlhabende Gruppe sind die englischen Rentner, die in großen Scharen gekommen sind und die Häuserpreise so in die Höhe getrieben haben, dass junge Franzosen sich die alten, schönen Substanzen nicht mehr leisten können und überdies gibt es hier auch kaum Arbeitsmöglichkeiten. Unser Dorf hatte noch 1970 an die 2000 Einwohner, als wir herkamen, waren es noch 375, heute sind es 200, davon 80 Engländer. Ein Großagrarier kauft Land von den aussterbenden Höfen, oft diese gleich mit, um sie verrotten zu lassen und besitzt mittlerweile etliche tausend Hektar Ackerland.

Seit fünf Jahren gibt es die Dorfgrundschule nicht mehr, seit Juni diesen Jahres hat die letzte Épicerie geschlossen.

Interessant ist die sehr unterschiedliche Entwicklung der Dörfer, wenn man sich die ganze Region ansieht. Da gibt es z.b. in einiger Entfernung hier und da plötzlich ein Dorf, in dem das Leben zurückgekehrt ist: ein Dorfladen, eine Post, ein Bistro. Dörfer, in denen die von Ségoulène Royal, der Départementchefin, subventionierten "Nuits Romanes" stattfinden, Kulturergnisse mit Musik, Theater, Spiel und Tanz vom allerfeinsten. Jedes Dorf hat die Möglichkeit mitzumachen. Die Mitglieder des Gemeinderates in unserem Dorf wussten nicht mal um die Existenz dieser Veranstaltungen. Sie betreiben pestizidöse Landwirtschaft und halten alles fern, was sie nicht kennen. Sie fürchten sich vor "Kosten" und sehen sich nicht in der Lage, die Subventionen zu beantragen, die Formulare bleiben ungelesen.

Jedoch der Bürgermeister spürt "etwas". Er ist ein jüngerer auswärtiger Lastwagenfahrer, möchte nächstes Jahr wieder gewählt werden und bemüht sich "etwas" auf die Beine zu stellen. Schön war z.b. im Oktober eine Ausstellung der "talents du coin", die von einer Minigruppe, bestehend aus Restfranzosen, Engländern und Deutschen in der leerstehenden Grundschule organisiert wurde. Der Bürgermeister gab uns den Schlüssel mit den Worten : "Macht was ihr wollt, Hauptsache ihr macht was." Es gelang und zwar in voller Freiheit. Vielen hat es Spaß gemacht.

Das ändert natürlich an der allgemeinen Entwicklung nichts ... oder doch? Ist es vielleicht das halbleere oder das halbvolle Glas? Motiviert durch den Erfolg der "talents du coin" wird nächstes Jahr ein Konzert organisiert und übernächstes Jahr vielleicht eine "Nuit Romane" ( für die sogar in Paris großflächig geworben wird!) Jetzt weiß der Gemeinderat, was es damit auf sich hat und auch bezahlbar ist. Es ist eine Entwicklung von ganz unten.

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Geschrieben von

Novalis

lebt halb in Frankreich, halb in Deutschland, suchte die Blaue Blume, fand sie und erkannte, dass Realität Illusion ist und Illusion Realität.

Novalis

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