Französisches Tagebuch

Inquisition Ich hatte im vorigen Sommer ein schlichtes Privatkonto bei einer renommierten französischen Agrarbank eröffnet.

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Meine Sachbearbeiterin hatte sich erstaunlich viel Mühe mit mir gegeben.

Sie ging nun in diesem Sommer in einen längeren Mutterschaftsurlaub und ihre Nachfolgerin rief mich an und bat um einen Termin. Ich war erstaunt, denn die Formalitäten waren doch längst erledigt. Sie wolle mich nur einmal kennen lernen. Und weil ich jede Gelegenheit nutze, ein gutes Französisch zu trainieren, ergriff ich meine Chance und rechnete so mit 15 Min. für einen kleinen geschliffenen Smalltalk. Der Ableger dieser Bank befindet sich in einem Nachbardorf und ist nur zweimal in der Woche geöffnet. Als ich eintrat, wurde ich von einer schicken jungen Frau, die sich Mademoiselle B. nannte und einem ebenfalls schicken jungen Herrn äußerst höflich begrüßt. Beide baten mich hochoffiziell in das Dorfbüro der Bank. Aus meinen 15 Minuten wurden zwei Stunden Inquisition! Warum mein Mann und ich in Frankreich lebten? Warum ein paar Monate auch in Deutschland? Warum wir unseren Hauptwohnsitz nicht in Frankreich hätten? Was ich denn die ganze Zeit da in dem Dorf machte?Und so ging es weiter mit sehr persönlichen Fragen, die mich an meine Flüge nach Israel erinnerten.

Das ist so eine Situation, in der muss man den inneren französischen Code kennen und der heißt: Es gibt in jedem Berufszweig sehr individuelle "GestalterInnen" und wenn du denen quer kommst, kann das unangenehme Folgen haben. Diese beiden "Gestalter" genossen schlicht einer Fremden genüber ihre vermeintliche Machtrolle. Vielleicht hatten sie sich auch über Merkel &Co geärgert. Ich hatte Zeit, nutzte die immense Chance verständlich zu reden und erzählte ihnen breit und ausführlich von den ganzen sozialen Projekten, die wir planen und durchführen und vom Musizieren und vom Autorendasein und und und .... .

Das Konzept ging auf, beide strahlten und unsere Gesprächsthemen hatten das Konto längst verlassen.

Ich kann jetzt davon ausgehen, dass ich bei dieser Bank bevorzugt bedient werde. Es hat keinen Zweck danach zu fragen, was das ganze sollte. Ich habe es schon oft erlebt, dass die Effektivität eines Betriebes nicht im Vordergrund steht, sondern häufig individuelle Vorlieben und Abneigungen Einzelner. Das kann sehr charmant sein und auch menschlich, bleibt jedoch unberechenbar. So kann eine Stimmung hier individuell und auch kollektiv sehr schnell steigen oder kippen.

Am deutlichsten ist das an den Selbstmorden zu sehen. Wir kennen allein vier Menschen hier persönlich, die sich in den letzten sieben Jahren in plötzlichen Gefühlsaufwallungen das Leben genommen haben. Ganz zu schweigen von denen, von denen wir es wissen, sie aber nicht persönlich kennen. Die Rate ist enorm hoch. Die Entscheidungen sitzen lockerer, auch die ganz großen. Die Bereitschaft verletzt zu sein oder sich zu freuen ist ungleich größer als ich es aus Deutschland kenne. Je tiefer wir in das Leben hier eintauchen, desto deutlicher spüre ich die Unterschiede. Wie mag es den Migranten diesbezüglich in Deutschland gehen? Ich kann sie immer besser verstehen.

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Geschrieben von

Novalis

lebt halb in Frankreich, halb in Deutschland, suchte die Blaue Blume, fand sie und erkannte, dass Realität Illusion ist und Illusion Realität.

Novalis

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