französisches Tagebuch, Michel aus der Cabane 2

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Mein Besuch bei Michel aus der Cabane liegt nun schon einige Tage zurück und immer noch lassen mich seine Worte nicht in Ruhe. Die Frage,die mich mein Leben lang umtreibt und auf die ich natürlich niemals eine wahre Antwort bekommen werde ist die, die sich wohl die meisten Menschen immer wieder stellen: Warum das Ganze? Was hat dieses unermessliche Weltall mit seinem verschwommenen Anfang und Ende, mit seinen verwirrenden Systemen, Werdungen und Verglühungen, mitten drin(oder am Rand?) der winzige Planet Erde mit seinen Bedingungen, seinen Lebewesen und diesem Konstrukt "Mensch"darauf für einen Sinn? Und warum, warum all dieses Leid, bei vollem Verstand dieses Menschen, hervorgebracht durch Krieg, Ungerechtigkeit, Raffgier ... .

Ich saß da also bei Michel in seiner Küche, die Hühner liefen rein und raus und während ich in dem Kaffee herumrührte, sagte ich ihm das einfach. Wir hatten kurz über Fukushima gesprochen und Sarkozy und Libyen. Ich hatte irgendwie keine Worte mehr für das, was alles passiert. Da sagte ich ihm das mit dem Sinn. Ich kam mir vor wie ein Kind und fühlte mich doof. Er sah mich an, lachte und sagte, dass ich mit diesen Fragen wirklich nicht allein sei. Und dass seit Jahrtausenden die Antwort mehr oder weniger verzweifelt in selbstgebastelten Göttern, die in der alten Welt, dann in Europa und Asien erst halb-und viertel Mensch waren, dann vor ca. 3000 Jahren sich im vorderen Orient zu einem einzigen "Gott" entwickelten, gesucht wurde. Es entstand ein seltsames Gemisch aus allem: da tauchten ein Gottessohn auf, eine jungfräuliche Mutter desselben, Propheten wurden kreiert, Heilige geschaffen, riesige Apparate entstanden, um mit diese eine Angst des Menschen in den Griff zu kriegen: Nicht zu wissen, wo der Sinn ist. Und damit in eine bodenlose Tiefe zu fallen.

Und die Buddhisten, Hinduisten, Konfuzius, also die asiatischen Antworten auf die Sinnfrage? frage ich Michel. Ihre Antwort lautet, sagt er: Du musst dich auf das Nichts vorbereiten, das ist das Ziel. Oh, Michel, sage ich, verdammt, in allen diesen Bibeln, Koranen und Thoraen, in den Schriften des Buddha, des Konfuzius und ich möchte hinzufügen, in den Schriften des Marx und Lenin, Trotzki und Bakunin, in allen wird Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit gefordert. Und was ist? Die einen machen die anderen nieder, statt sich zu potenzieren.

Jetzt habe ich über eine Stunde in seiner Küche gesessen, ihm zugehört, die frischen Eier schon im Fahrradkorb. Es ist genug für heute. Ob ich wieder kommen darf? Ob wir weiter darüber sprechen können? Er nickt. Er freue sich darauf. Warum habe ich seine Mutter nicht gesehen?

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Geschrieben von

Novalis

lebt halb in Frankreich, halb in Deutschland, suchte die Blaue Blume, fand sie und erkannte, dass Realität Illusion ist und Illusion Realität.

Novalis

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