Erdoğan-Verehrung ist euch fremd? Tut nicht so, ihr kennt das
Meinung Der türkische Präsident begeistert nach wie vor viele Wähler, auch in Deutschland. Hierzulande wundert man sich oft über die Erdoğan-Kult. Dabei müsste uns das eigentlich bekannt vorkommen
Fotos: Hugo Burnand/Royal Household 2023, Yasin Bulbul/AA/DPA (rechts)
Deutsche und Türken haben vieles gemeinsam. 60 Jahre Migrationsgeschichte einen uns, Türken sind die größte Minderheit in Deutschland, Deutsche die größte Touristengruppe in der Türkei. Und die Waffenbruderschaft in guten wie in schlechten Zeiten – vor allem in schlechten – geht Jahrhunderte zurück. Wir mögen uns nicht immer, aber wir verstehen uns. Wie zwei Geschwister, die einander nicht ausgesucht, aber nun einmal ihr Leben zusammen verbracht haben. Man kennt sich. Bis auf diese eine Frage, an der sich die klügsten Köpfe beider Nationen seit 20 Jahren die Zähne ausbeißen, und auch jetzt wieder bei den Wahlen in der Türkei 2023: Warum ist Erdoğan so beliebt?
Die Frage ist berechtigt. Allerdings wird sie
s wird sie häufig mit einer Überheblichkeit gestellt, die ihrerseits einige Fragen aufwirft. Vom „Sultan“ ist dann gern die Rede, als wäre absolutistische Herrschaft ein Alleinstellungsmerkmal des Osmanischen Reiches gewesen. Von konservativen Gastarbeiterkindern, die ihre Landsleute ins Elend stürzen, während sie hier Demokratie und Freiheit genießen. Alles rätselhaft, alles exotisch, alles fremd? Man könnte es sich leicht machen und zurückfragen, wem die in Deutschland lebenden Türkeistämmigen ihre Freiheiten noch gleich zu verdanken haben. Der selben Nation etwa, der man 1945 die Vorzüge der Demokratie mit Panzern und Raketen näherbringen musste?Aber nein, so leicht machen wir es uns nicht. Es ist komplizierter. Schauen wir nach Großbritannien.His Majesty Charles the Third, by the Grace of God of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and of His other Realms and Territories, King, Head of the Commonwealth, Defender of the Faith – so wird der britische Charles jetzt genannt. Von Gottes Gnaden, Verteidiger des Glaubens. Seine Coronation, die Krönung des Königs, verfolgte halb Deutschland, so manches Auge wurde feucht und erinnerte sich womöglich an jenen Moment vor fast 20 Jahren, als „wir“ einmal Papst wurden.Sie stillen ein Bedürfnis, diese Benedikts, Charlese und Receps. Wer behauptet, dieses Bedürfnis nicht zu kennen, muss nicht weiter schauen als bis ins Herz der Bundesrepublik, durch die Glaskuppel des Reichstags in den Plenarsaal des deutschen Parlaments, als der britische Sultan ihn betrat, mit seiner Frau Camilla, im März diesen Jahres.Charles, von Gottes GnadenDer Saal ist voll, die Besuchertribüne bestückt mit Diplomaten, ehemaligen Bundespräsidenten und anderen Ehrengästen, und dann stehen sie alle auf mit zugeknöpften Jacketts und andächtig gefalteten Händen, in der ersten Reihe der Kanzler selbst, gewählte Repräsentanten des Volkssouveräns. Der König und seine Gemahlin treten ein. Nachdem die royalen Hintern platziert sind, dürfen auch die Parlamentarier wieder sitzen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas tritt ans Rednerpult, ihr erstes Wort ist „Majestäten“, eine große Ehre sei es, „Eure Majestät“ und die „Königin-Gemahlin“ begrüßen zu dürfen. Applaus nach jedem Halbsatz. Schwelgen in Erinnerungen daran, wie Charles hier einst als Prince of Wales zu einem ausgewählten Publikum sprach, heute also vor dem gesamten Bundestag „als König und Repräsentant einer der ersten Demokratien der Welt“.Die Ehrerbietung einem Monarchen gegenüber hinterfragt man nicht, das macht man einfach. Wo dieser Mann seinen Autoritätsanspruch eigentlich hernimmt und wie legitim der ist, wen oder was er repräsentiert und wie er da hingekommen ist, das sind Fragen, die nur unnötig dazwischenfunken. Klappe halten und strammstehen, der da ist nicht wie du und ich, das ist His Majesty Charles the Third, Defender of the Faith.Nicht alle Erdoğan-Anhänger verehren ihn so entpolitisiert wie einen Monarchen. Erdoğan und seine Partei stehen für eine Ideologie, und diese Ideologie hat Anhänger. „Knochenwählerschaft“ sagt man im Türkischen zu diesen Leuten, sozusagen das Skelett der AKP. Überzeugte rechtskonservative Muslime, die den politischen Islam unterstützen. Aber über dem Skelett liegen Muskeln, Organe, Haut: Ohne sie würde die Partei zum leblosen Gerippe. Die Gruppen, denen der Präsident seine Macht zu verdanken hat, wählen ihn nicht deshalb, weil sie seine Weltanschauung teilen oder seine politischen Maßnahmen sinnvoll finden, sondern weil er ein Bedürfnis in ihnen stillt.Politisch gibt es weder an Recep Tayyip Erdoğan noch an seinen Anhängern etwas zu verteidigen. Aber im Namen der intellektuellen Redlichkeit muss man festhalten: Er wurde immerhin einmal gewählt. Er regiert eine Republik. Seine Herrschaft fußt zu wesentlichen Teilen auf blinder, entpolitisierter Autoritätenverehrung, aber sie hat ein Ablaufdatum. Anders als eine Monarchie. Oder eine faschistische Diktatur. Wenn Europa und insbesondere Deutschland tun, als wäre der sinnlose Kult um einen starken Mann etwas Fremdes, Andersartiges, Unbegreifliches, ist das eine Lüge. Wir kennen uns.
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