Zwischen Trash und Tragödie

Yukio Mishima nahm sich vor 50 Jahren das Leben. Bei Kein & Aber ist nun die erste deutsche Übersetzung von "Leben zu verkaufen" erschienen.

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Spektakulärer ist kaum ein Schriftsteller aus dem Leben geschieden. Mit 45 Jahren beging Yukio Mishima Seppuku, den rituellen Selbstmord der Samurai: Er schlitzte sich mit einem Dolch den Bauch auf und ließ sich von einem seiner Gefolgsleute enthaupten; sein Geliebter, Masakatsu Morita, gerade 24 Jahre alt, folgte ihm in den Tod.

Mishima war ein Star in Japan. Er war nicht nur ein gefeierter Schriftsteller, der früh für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde, sondern auch Bodybuilder, Model, Schauspieler und in den letzten zwei Jahren seines Lebens Anführer einer rechtsradikalen Miliz namens Tatenokai, zu Deutsch Schildgesellschaft, die es auf immerhin 100 Mitglieder brachte.

Am 25. November 1970 begeben sich Mishima und vier junge Männern der Tatenokai in das Hauptquartier der japanischen Armee in Ichigaya in Tokio. Sie werden zum General vorgelassen, nehmen diesen in seinem Büro als Geisel und fordern, dass sich die Soldaten des Stützpunkts vor dem Gebäude versammeln. Vom Balkon hält Mishima eine Rede, in der er zur Wiedereinsetzung des Tennos, des japanischen Kaisers, zum Regierungschef und Befehlshaber der Streitkräfte aufruft. Ohne Megafon ist er nur schwer zu verstehen, die Soldaten sind desinteressiert bis empört – im Internet findet man die entsprechenden Filmaufnahmen. Nach wenigen Minuten kehrt er in das Büro zurück und setzt seinem Leben vor den Augen des gefesselten Generals ein Ende.

Das ist, auch wenn es sich dieses Jahr zum fünfzigsten Mal jährt, nicht unbedingt ein Ereignis, das man feiern möchte, aber es lenkt die Aufmerksamkeit auf einen großen Schriftsteller, der in den letzten Jahrzehnten eher ein Schattendasein führte – zumindest in Deutschland, in Frankreich ist er sehr viel bekannter.

Der Verlag Kein & Aber bemüht sich seit 2018, das deutsche Lesepublikum mit Mishima (wieder) bekannt zu machen. Zwei Werke sind bisher in Neuübersetzungen erschienen – Bekenntnisse einer Maske und Der goldene Pavillon –, in diesem Oktober kam die erste deutsche Übersetzung von Leben zu verkaufen heraus.

Leben zu verkaufen ist weder der beste noch der wichtigste dieser drei Romane, aber der witzigste. Er ist eine Räuberpistole, Kolportage, ein großer Ulk, in dem einiges passiert: Es gibt konspirative Treffen und Geheimagenten mit bis zu acht verschiedenen Identitäten, nach alten Büchern wird gesucht, Karotten werden zerkaut und ausgespuckt, mehrere Menschen erschossen und vergiftet, auch eine Vampirin spielt eine bedeutende Rolle; zudem treten verschiedene schöne Frauen auf, die alle zügig mit dem Protagonisten ins Bett gehen, selbst die klischeehaft willige Krankenschwester fehlt nicht – der Roman erschien 1968 zunächst im japanischen Playboy, das mag für die Frauendarstellungen nicht unerheblich gewesen sein.

Die Hauptfigur ist Hanio Yamada, ein gutverdienender Angestellter einer Werbeagentur, der gerade einen Suizidversuch hinter sich hat, wofür ihm der Grund nicht mehr einfällt. Nun will er sich nicht mehr umbringen, aber ist jederzeit bereit zu sterben. Sein Überleben bewegt ihn zu einer paradoxen Lebensbejahung, die in all der Sinnlosigkeit der Welt nur noch im Tod einen Sinn sieht. Mit dieser Perspektive kündigt er seinen Job und gibt eine Anzeige auf: „Leben zu verkaufen. Verfügen Sie frei über mich“ und hängt ein Schild an seine Tür: „Life for Sale. Hanio Yamada“. Bereits am nächsten Morgen steht der erste Kunde an seiner Tür, weitere folgen. Hanio durch- und überlebt in der Folge ein absurdes Abenteuer nach dem anderen. Mitunter wähnt er sich in einem „Manga-Thriller“ und vermutet, es sei sein „Schicksal, dass er, kaum hatte er eine Sache überstanden, schon wieder in die nächste Geschichte hineingeriet.“ Damit ist nicht nur das Strukturprinzip des Romans angedeutet, sondern es bedeutet inhaltlich natürlich auch: So richtig klappt es nicht mit Hanios Geschäft, er stirbt nicht. Das ist zu Beginn noch Zufall, aber nach und nach stellt sich bei ihm ein Wille zum Leben ein. Da er bereits zu einer Menge Geld durch den mehrmaligen Verkauf seines Lebens gekommen ist, beschließt er, sein Geschäft für eine Weile auszusetzen und seinen Wohlstand zu genießen. Das Geld hat Hanios Todestrieb sediert. Daher fürchtet er immer häufiger um sein Leben, verspürt Todesangst und beschafft sich, weil er sich verfolgt fühlt und verfolgt wird (Paranoia und Wirklichkeit koinzidieren hier), sogar eine „Selbstverteidigungswaffe“ – wahrscheinlich eine ironische Anspielung auf das japanische Militär, das aufgrund der pazifistischen Verfassung Japans bis heute unter der Bezeichnung „Selbstverteidigungskräfte“ firmiert. Auch diese Waffe ist allerdings nicht ganz ernst zu nehmen, handelt es sich doch um eine Stoppuhr, die in einen schwarzen Kasten eingelassen ist. Sie dient Hanio als Bombenattrappe. Natürlich ist sie auch ein memento mori: die Zeit im Sarg.

Unter anderem in der Selbstverteidigungswaffe spiegelt sich der Gehalt des Romans: Es ist ein großer Klamauk, aber dazu erklingt als basso continuo eine Ernsthaftigkeit, die sich immer wieder in den Vordergrund spielt. Hanios leiden an der Sinnlosigkeit der Welt ist nicht grundsätzlich komisch. Das verdeutlicht Mishima wiederholt durch starke und manchmal widersprüchliche Vergleiche und Metaphern: Wenn Hanio zu sehen glaubt, wie aus den Schriftzeichen in der Zeitung Kakerlaken werden, die über das Papier rennen, ist das ein starkes und bedrückendes Bild nicht nur für den Bedeutungszerfall der Welt, sondern für den Ekel, den dieser hervorruft; wenn es über die Brüste einer Frau heißt, sie „machten einen gesunden Eindruck und ragten sanft wie alte Grabhügel in die Höhe“, legt sich dabei Thanatos so unheimlich über den Eros, dass man es nicht mehr vergessen kann. Diese sprachliche Kraft ist ohne Zweifel auch der Übersetzung zu verdanken, die sich sehr flüssig liest; aber leider ist sie zugleich voller Fehler und stilistischer Mängel, ein Lektorat hätte Formulierungen wie „Respekt für“, „Sinn machen“, „alte Oma“ und einiges andere vielleicht verhindern können.

Hanio fehlt der letzte Wille, um durch eigene Hand aus dieser Welt zu scheiden, das legt nicht nur sein gescheiterter Selbstmordversuch nahe, sondern auch das Mittel, das er dazu wählt: Schlaftabletten. Seine Aufgabe des Lebens, indem er es zum Verkauf anbietet, ist eine träge Sinnsuche, die ihn, obwohl er selbst der Verkäufer ist, zu einem fremdbestimmten Konsumenten macht: Er kann keinen Sinn mehr erzeugen, anderen müssen ihm diesen liefern.

Mishima war der Ansicht, dass Japan seiner kulturellen und sozialen Tradition durch Angleichung an den Kapitalismus westlicher, vor allem amerikanischer Prägung eilfertig entsagt habe. Dass Hanio auf sein Schild an der Tür auf Englisch „Life for Sale“ schreibt, deutet bereits an, dass sein Verhältnis zum Leben – und damit zum Tod – ein ganz anderes ist als das des Autors. Hanio ist letztlich ein Mann aus der Werbebranche geblieben, jemand der ein einmaliges Produkt verkaufen will, und zwar so häufig wie möglich. Mit seiner Annonce bricht er nicht etwa mit seiner Werberexistenz, sondern perpetuiert sie.

Es ist schon lange gute literaturwissenschaftliche Sitte, die freilich bisweilen zum Dogma erstarrt, den Autor aus seinem Werk herauszuhalten. Im Fall Mishimas lässt sich das aber gerade dank des Todes des Autors kaum bewerkstelligen. Mit Gewalt und Suizid endete ja nicht nur sein Leben, sondern Mord und Selbstmord sowie Reflexionen darüber ziehen sich durch das gesamte Werk bis hin zur Erzählung Patriotismus, in der sich ein Samurai nach einem gescheiterten Putschversuch durch Seppuku das Leben nimmt. Das gewaltsame Ende Mishimas ist nicht der Ausdruck einer Verzweiflung am Leben, sondern eines nostalgischen Kriegerideals, einer Sakralisierung des Schmerzes wie er sie in der Haltung der Samurais, aber auch in den Darstellungen des Heiligen Sebastian erkennt. Man täusche sich daher nicht: Diese Ideologie ist keine rein japanische oder asiatische, sie speist sich ebenso aus einer europäischen Tradition, die Mishima sehr gut kannte.

Ein Todeskult verspricht nie nur den Tod, sondern verheißt meist eine Intensivierung und Verlängerung des Lebens. Dass Mishima eben davon ausging, zeigt eine Notiz, die er auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte: „Das menschliche Leben ist endlich, ich aber möchte ewig leben.“ Hanio entscheidet sich am Ende für das menschliche Leben. Anders als sein Autor hat er verstanden: Es gibt kein anderes.

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