Lauschangriff 4/07

Kolumne Die schottische Landschaft ist von rauer Schönheit. Genau wie die Band Aereogramme. Nicht nur musikalisch spiegelt letztere ihr Land wieder, sondern ...

Die schottische Landschaft ist von rauer Schönheit. Genau wie die Band Aereogramme. Nicht nur musikalisch spiegelt letztere ihr Land wieder, sondern eben auch im Aussehen und der Persönlichkeit: Vollbärtig, kräftig, aggressiv, aber auch lustig und charmant. Wenn man sie trifft, glaubt man, sie hätten gerade eine Wanderung bei Wind und Regen zurückgelegt. Sie trinken Whisky wie andere Leute Bier, und im Jahr 2005 wäre die Band wegen ihres wilden Lebenswandels beinahe auseinandergegangen. Der Sänger Craig B bekam nämlich eine chronische Halsentzündung. Wochenlang konnte er nicht mal mehr reden. Dabei war er es gewohnt, bei Aereogramme wie ein Heavy Metal-Sänger zu schreien. Süß wie ein Vogel, aber auch wütend wie ein Bär hat er früher gesungen. Metal-Gesang eben.

Tabak und Whisky über Jahre sind eine fragwürdige Kombination. So war klar, dass Craig B sein Leben neu definieren müsste, wenn Aereogramme eine Chance aufs Weitermachen haben wollten. Da keine Genesung in Sicht war, gingen die Bandmitglieder zunächst eigene Wege. Mühsam gewöhnte sich Craig währenddessen das Rauchen ab und nach einem halben Jahr normalisierte sich seine Stimme. Doch er war nicht bereit, den Whisky aufzugeben, weil er meinte, dass ein Künstler langweilig wird, wenn er zu gesundheitsbewusst lebt. Gerne führt er dafür das Beispiel seiner Zeitgenossen Snow Patrol an, die nach zehn Jahren endlich ihren weltweiten Erfolg feiern, aber gleichzeitig, seiner Ansicht nach, "künstlerisch belanglos geworden" seien. Snow Patrol trinken nämlichen keinen Alkohol mehr. (Allerdings sind Snow Patrol ursprünglich aus Belfast. Abstinenz ist in Irland aber genauso ungewöhnlich wie in Schottland.)

Während seiner Halserkrankung komponierte Craig ganz allein weiter Musik, und daraus wurde die Basis des neuen, vierten Aereogramme-Albums: My Heart has a wish that you would go. Der Albumtitel stammt aus dem Roman Der Exorzist. In der Verfilmung kommt der Satz allerdings nicht vor. Die Platte ist jedoch sehr stark von Lieblingsfilmen der Band-Mitglieder inspiriert worden. Das Kino ist nämlich eine gemeinsame Leidenschaft von ihnen. Gitarrist Ian Cook komponiert seit Jahren Soundtrackmusik für Film und Fernsehen und hat dadurch die ganze Gruppe in diese Richtung gelenkt. Beim Lied Trenches wollten sie einen Soundtrack zum ersten Weltkrieg schaffen (daher die Bläserarrangements), und beim Song A life worth living stellten sie sich eine Autorennenszene vor. Die Band war auf der Suche nach neuen atmosphärischen Möglichkeiten, weil sie wussten, dass Craig B nicht mehr auf die gleiche Weise singen durfte wie früher. Zwar gibt es Heavy Metal-Gesangsunterricht, in dem lernt die Stimme zu schonen, wenn man schreit. Aber das fand die Band zu künstlich. Also singt Craig nur noch sanft und bedächtig. Sie verzichten auf die kontrastreichen laut-leise Passagen, die ihr Markenzeichen waren und nahmen dafür ein neues Mitglied an Bord, Martin Doherty, der Keyboard spielt und Streichersätze arrangiert. Und siehe da: Aereogramme erreicht intensive Höhepunkte auch ohne Schreigesang und verzerrte Gitarren. Die Halsentzündung von Craig B ist das Beste, das ihnen hätte passieren können, denn sie wurden dadurch zur künstlerischen Erneuerung gezwungen. Ihr Sound ist heute angenehmer und weniger anstrengend. Auf den ersten Alben Story in White 2001 und Sleep and Release 2003 waren die stilistischen Elemente weitgefächert: Metal, Punk und Emo. Man konnte die Gruppe schlecht einordnen. Eine verzerrte Gitarre hört man jetzt nur noch in einem Stück, und sie klingen weder nach Punk und Metal noch nach Emo. Sieben Jahre nach ihrer Gründung haben sie es geschafft, sich neu zu erfinden. Die Rockwelt haben sie dabei größtenteils hinter sich gelassen und sich der "soundtrackartigen" Musik mit Gesang zugewandt.

Die Texte von Craig B sind nach wie vor sehr emotional, eine Mischung aus Freude und Traurigkeit. Es sind immer noch keine Popsongs zum mitsummen, sondern ergreifende Lieder für die Krisenzeiten des Lebens. Ich habe schon öfter Whisky getrunken, um eine Erkältung abzuwehren. Nun weiß ich, dass man ihn auch trinken kann, um nicht künstlerisch belanglos zu werden.


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