Eine neue Gesellschaft aus dem Geiste des Uneinverstandenseins

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''...notwendig muss, wer in der Tat fuer Gerechtigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit erhalten soll, ein zurueckgezogenes Leben fuehren...''
Platon, Die Apologie des Sokrates

Wenn wir nach nunmehr fast 250 Jahren, die das Projekt Aufklaerung nun andauert, uns fragen, wo wir eigentlich im Jahr 250 der Aufklaerung stehen, koennen wir uns diese Frage eventuell nur mit einer abwaegenden Handbewegung beantworten und etwas zaghaft einander zuraunen: wir sind nicht soweit, wie wir es vielleicht sein sollten.
Die Aufklaerung war in ihrer Grundkonzeption eine Bewegung gegen die Unwissenheit des Menschen und damit letztlich eine forciert couragierte Bewegung gegen die Angst. Eine Bewegung, die auf die menschliche Freiheit abzielte, eine Befoerderung der Anthropokonstante hin zur Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft der Zwaenge und der Aengste.
Wo also stehen wir im Jahr 250 der Aufklaerung?

Wir leben in einer Gesellschaft, der die großen Projekte fehlen und die sich vorerst zufriedenstellt damit, die Menschen irgendwie zwanghaft in Lohn und Brot zu halten bzw zu bringen, die sich dem Projekt Arbeitsgesellschaft hingibt und vorerst alle Visionen und Ideale auf Eis gelegt hat.
Diese Gesellschaft gefaellt sich darin, weiterhin zu konsumieren und sich in Befindlichkeiten zu verlieren und an den Zustaenden herumzujammern, die man ja doch Tag fuer Tag mit aufrechterhaelt, indem man anstaendig, pflichtgemaeß und in ruhigem Gottvertrauen fuer dieses System arbeitet, einkauft und produziert.
Das Alles ist auch recht schoen und beizeiten gut, aber die Frage bleibt und stellt sich vielleicht gar jetzt lauter als je zuvor:
wo ist unsere Freiheit denn wirklich? Wie frei eigentlich sind wir? Was macht uns Angst?
Besser gefragt: warum haben wir immer noch soviel Angst, warum sind wir derart beklemmt?

Die Antwort lautet: weil uns der Mut fehlt. Weil wir Tag fuer Tag selbst die Angst, die Zwaenge und den Druck produzieren, gegen die wir eigentlich kaempfen muessten.
Freiheit ist und sollte vor allen Dingen sein: die Freiheit von Angst. Denn wie anders sollen wir unsere Freiheit genießen, wenn nicht angstfrei und ohne schlechtes Gewissen?

Wie aber erlangen wir die Freiheit von Angst? Durch das radikale uneinverstandene Leben...

''Manchmal frage ich mich, wie ich es fertig bringe, so weiterzuleben, woher ich die Feigheit nehme, hier, zwischen all diesen Leuten zu bleiben, zu sein wie sie, mit ihren Schrott-Illusionen.''

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe

Der portugiesische Romancier benennt die Dinge hier treffend beim Namen. Die Feigheit allein macht es, dass wir einen jeden beliebigen neuen Tag mitmachen beim großen Gesellschafts-Spiel, ganz ohne vielleicht auch nur einmal sich den Mut herauszunehmen, gerade um das Beste der anderen Mitspieler willen, einmal zu schummeln und mit den Regeln zu brechen.
Die Gesellschaft stiftet sich ihre Identitaet u.a. mit zwei Fundamenten: der Angst und dem Zwang.
Machen wir dieses Phaenomen der Angst und des Zwanges an dem Exempel der Arbeit deutlich:

es ist in unserer westlich-aufgeklaerten Gesellschaft kein Verbrechen, nicht zu arbeiten. Aber es ist eben auch kein Grundrecht oder ein Anrecht auf Freiheit und Autonomie, zu sagen: ich moechte nicht mehr arbeiten. Ich habe zwar kein Geld, aber ich moechte nicht mehr arbeiten.
Die Gesellschaft lebt ganz klar nach dem Arbeits-Ethos und auch sozialdemokratische Politiker haben in der naeheren Vergangenheit nicht davor zurueckgeschreckt, den Satz zu äußern:

''Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.''

Abgesehen davon, dass ein solcher Satz an sich ein Skandalon ist, ist er doch in all seiner nackten Rauheit nach wie vor DIE fundierende Konstituante unserer Gesellschaft. Bricht jemand mit der unausgesprochenen Latenz der Selbstverstaendlichkeit der Arbeit freiwillig, begehrt die Gemeinschaft der willig Arbeitenden um ihn herum direkt auf.
Zunaechst wird mit dem Mittel der Angst gearbeitet, dass dem Arbeitsunwilligen vorhaelt, dass er bald seinen Lebensstandard und im schlimmsten Fall das Anrecht auf Nahrung veriert, wenn er nicht schleunigst wieder arbeitet. Verfaengt dieser Druck durch Angstgenese nicht, wird der naechste Hammer ausgepackt: der Zwang. Wer in unserer Gesellschaft nicht arbeiten will, wird dazu gezwungen oder verliert seinen Status als Buerger ersatzlos und wird zum Paria der Gesellschaft. Er darf nicht mehr wohnen und nicht mehr prosperieren. Das ist die Sanktion und die fast alttestamentarisch-existentielle Strafe, die sich an ihm vollzieht. Zugleich wandelt ein solcher ''Outcast'' fortan als lebender Pranger fuer die eventuellen Faulenzer und Arbeitsunwilligen herum, denen er signalisieren soll:
''DAS passiert, wenn ihr euch abkoppelt vom Arbeits-Ethos, das unsere Gesellschaft antreibt. Keiner darf und soll so ganz ad libitum leben''.

Wir duerfen also gern nach Moeglichkeit waehlen, WAS wir arbeiten wollen, allerdings nicht: DASS wir NICHT arbeiten wollen. Dafuer hat die Gesellschaft keinen Raum gelassen...warum eigentlich nicht?

Der radikal aufgeklaerte Mensch versucht, sich diese Frage zu beantworten, indem er voller Mut aus seiner Ratlosigkeit diesbezueglich kein verborgenen Hehl in seiner stillen Kammer macht, sondern indem er seine Zweifel und seinen Widerstand gegen das, was ihm nicht passt, nach vorne lebt. Er fuehrt eine harte und entschiedene Bewegung gegen die eigene Passivitaet in seinem Innern und traegt diesen Kampf in die Gesellschaft. Eine solche Bewegung des Einzelnen ist Politik und eben keine verworrene ''Bewaeltigung'' eines Einzelschicksals.

Er wird finden, dass er mit dem, was ihm allein wie ein unbewaeltigbares Schicksal ueber dem Kopf z drohen scheint, grade keine Einzelschicksal ist. Dass es Millionen sind, die denken wie er/sie. Der radikale Mensch wird sich entschließend, Obstruktion zu leisten, um seine Uneinverstandenheit wie eine Unabhaengigkeit stark und offensiv zu erklaeren. Er darf nicht gebueckt stehen und muss aufrecht sprechen.

Das eigene innere ''aber'', dieser ewige vererbte Angstreflex der aengstlichen Naturen und Dauer-Bewahrer muss deutlich und raumgewinnend ueberschritten werden. Warum sollen wir die eigenen inneren Antriebe, die derart stark intrinisch motiviert sind, jeden Tag neu niederringen? Zugunsten welcher vermeintlichen Gesellschaft oder Tradition? Ist denn nicht gerade der neue Schritt aus sich selbst heraus der Aufbruch, dessen wir so dringend beduerfen, um die aggressive Generalmobilmachung, die von ueberall in die Gesellschaft getragen wurde in den letzten Jahren, zurueckzuschlagen und wieder entspannt zu leben, aesthetisch, sympathisch?

Ich habe diese Frage hier schon oft gestellt: wie wollen wir leben, in was fuer einer Gesellschaft?
Wenn ich die ''alte Gesellschaft'' mit dem muede-muerben ''Aber''-Reflex verteidige, zu wessen Advokat mache ich mich da eigentlich? Werde ich derart nicht letztlich der Liebediener der Konformitaet und der Angepasstheit?
Und auch sollte sich jeder bei sich fragen:

''Was will ich wirklich aendern, bevor der Antrieb in mir erstirbt, weil ich mich selbst ueber all die Jahre ernuechtert habe, in denen mein Wille stark und meine (mir unbewusste) Kraft doch eigentlich fast grenzenlos war?
Ist nicht der Kampf gegen meine eigenen haesslichen Gewohnheiten der Passivitaet und des Mitmachens zugleich ein Kampf, den ich fruchtbar in die Gesellschaft tragen kann?''

Diese verkrustete Geldbeschaffungs-Gesellschaft braucht einen neuen Geist und ein neues menschlicheres Angesicht.
Seien wir radikal uneinverstanden...lassen wir uns nicht mehr bieten, was uns buecken macht! Wir haben den Mut, aufrecht zu gehen, zu denken und zu handeln.

Der geduldige Leser mag entschuldigen, dass diese Ausfuehrungen zur Bewaeltigung der Angst gerade(!) durch das radikale Leben, derzeit noch lueckenhaft sind und etwas um ihr Thema kreisen, wie ein Bergsteiger verzweifelt um einen riesigen, ihm noch unbekannten Berg, zu dessen Gipfel er den bestmoeglichen Klimmweg ausspaeht und fuer eine Weile gar kleine Irrwege laeuft. Dennoch bin ich der festen Ueberzeugung, dass es grad auf diesem Naeherungsweg unendlich viel zu lernen gibt...

Der naechste Teil dieser Ausfuehrungen wird den Utopiebegriff zum Thema haben und ihn gegen das Konstrukt ''Realitaet'' abgrenzen und aufzeigen, warum, wer Visionen hat, noch lange nicht zum Arzt muss...

...naechstens dann mehr...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy