Erste Blicke auf das Verlustzeitalter

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''Man spuert das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren, das nicht mehr ersetzt werden wird. Noch fuer unsere Großeltern war ein Haus, ein Brunnen, ein ihnen vertraut gewordener Turm, ja, ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertrauter, fast jedes Ding ein Gefaeß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten.

Nun aber draengen, von Amerika her, leere, gleichgueltige Dinge herueber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen..''

Rainer Maria Rilke, Aus einem Brief an Sidonie Nadherny von Borutin (1926)

Wann haben Sie, lieber Leser, zuletzt einmal den Vogelsang vor Ihrem Fenster bewusst und auf ihrem Stuhl zurueckgelehnt am fruehen Morgen genossen?
Ach so, Sie hoeren des Morgens gar keine Voegel vor ihrem Haus?
Weil dort keine sind oder weil Sie sie nicht mehr heraushoeren?
Wegen des Verkehrslaerms oder weil vor ihrer Haustuer keine Baeume mehr wachsen?
Oder weil die Voegel zwar noch irgendwo da sind, Sie diese aber weder mehr sehen noch hoeren...?
Ach, Sie haben auch die Zeit gar nicht mehr...?

Dann heiße ich Sie herzlich willkommen im Morgengrauen des Verlustzeitalters. Wir haben nun einmal mit den Voegeln begonnen, bleiben wir also vorerst und fuer heute in diesem Themenraum und auf einem Feld, auf dem wir alle nur noch Verlierer sind von Tag zu Tag: in der Natur. Bleiben wir noch eine Weile bei den Voegeln, bleiben wir in der Natur, bleiben wir in Amerika, wo also die ''leeren gleichgueltigen Dinge'' herkommen:

''Unlike Homo sapiens, Grus Americana (The american Crane), lives out its life from day to day, quite unconcerned about its proper prospects for extinction...''

Peter Matthiessen, Wildlife in America (1959)

In einem wunderschoen-traurigen Buch macht der wissenschaftliche Journalist Peter Matthiessen bereits im Jahre 1959 eine Natur-Verlustrechnung fuer den nordamerikanischen Kontinent auf. Er fuehrt den Kontrast zwischen der einstigen Abundanz (dem naturreichen Ueberfluss) von Tierarten auf und stellt ihm die äußerst kurzfristige Zeit bis zu ihrer nachmaligen Ausrottung gegenueber (der ''Klassiker'' sind hier Tierarten wie das Nordamerikanische Bison oder die Wandertaube etc.).

So zeigt Matthiessen am Beispiel des Nordamerikanischen Schreikranichs auf, wie dieser gar nicht anders kann, als Jahr fuer Jahr in seine von Menschenhand zerstoerten, aufgestoerten und vergifteten Habitate zurueckzukehren in einem uns als Menschen fatalistisch anmutenden Gleichmut. Was die Gene dieser Tierart ueber Jahr(hundert)tausende ''eingeimpft'' haben, kann nicht von heute auf morgen geaendert werden. Als Matthiessen dies schreibt, gibt es noch ca. 30 dieser Voegel.

Ich habe in diesem Blog bereits des Oefteren aufgefuehrt, dass Dinge, die plötzlich explizit werden und in den Diskurs oder zumindest ueberall in die Diskussion geraten, in eine große Krise geraten sind. Dazu muessen wir fuer heute nicht einmal das Thema Atomkraft auf den sonntaeglich gerichteten Fruehstueckstisch werfen.

Man darf die These aufstellen: die ploetzlich in einen kritischen Rahmen gestellte BENENNUNG (das Zur-Sprache-Bringen) einer Sache im modernen Zeitalter beweist die Tatsache ihrer hochwahrscheinlichen Verlustmoeglichkeit.
Anders gewendet: neben den stillschweigenden Verlusten gibt es Verluste im Großen, die sich dadurch abzeichnen, dass Dinge, die seit gefuehlten Urzeiten selbstverstaendlich waren, ploetzlich auf die Diskurs-Agenda geraten (derzeit zB in loser Reihenfolge: Fleischessen, Despotien in ehemaligen ''Dritt-Welt-Laendern'', Papier als Texttraeger, Atomkraft, ueberzeitliche moralische Werte, der Glaube, die Familie, nicht zuletzt: die Liebesfaehigkeit, etc).

Das Verlustzeitalter ist charakterisiert durch eine anfaengliche Beschleunigung des Zugewinns im Materiellen (Konsumkult) bei gleichzeitig fortschreitend beschleunigtem Verlust ehemals als transzendent gefasster und ''ewig' geglaubter Werte wie Sicherheit, Bestand, Moral, andauernde Liebe, Naturraum als Rekreationsform usw.
Nun verhaelt es sich gemeinhin so, dass der wahrgenommene Verlust tieferer Werte dem Menschen fast notwendig zur Traurigkeit umschlaegt. Bei alledem stellt sich aber heraus, dass diese anzunehmende Traurigkeit in all ihrer Kraft bei uns noch gar nicht angekommen ist. Zwei Dinge vor allen anderen hat der moderne Mensch ueberhaupt noch nicht bewusst erfasst:

a) dass die plötzliche ubiquitäre Thematisierung von bisher fest geglaubten Werten/Dingen/Verhaeltnissen eine Vorform ihres Verlustes bzw ihres Verschwindens ist

b) der bewusste Blick auf Tatsache a) durch Anerwerb kaeuflicher Gueter im Ueberfluss (der blinde Fleck der Affluenz- und Konsumgesellschaft) absolut verstellt und verzerrt wird

Wir sind jetzt ueberall zu Gewinnern und Gutschein-Empfaengern deklariert worden. Im Bereich der Konsumwelt sind die frohen Botschaften so bunt und allgegenwaertig, dass der Einzelne kaum noch glauben mag, wie unglaublich wir indes unbewusst verlieren . Derjenige, der dann auch tatsaechlich den Glauben an den stetigen Zugewinn verliert, wird abgespeist mit dem Bio-Siegel, der Nachhaltigkeit und dem guten Zuspruch, dass er dennoch weiter hinzugewinnen wird und nun eben bewusst und oekologisch sinnvoll konsumieren darf. Ein Handschlag drauf zur Kontinuitaet des Wachstums und des Zugewinns. Die eigene Verlustbemessungsrate des klassischen Konsumenten belaeuft sich dann maximal auf Gewichtsverlust, eine Verlustform zumal, die nur im physischen Bereich wahrgenommen wird, da man Intellekt nicht klar genug an sich selbst wahrzunehmen versteht und sich nicht mehr sonders wundert, wenn man verloren hat, was man vielleicht nie allzu fasslich besaß.

Dagegen rekrutiert sich die Avantgarde des modernen Verlust-Menschen aus den ersten ratlos dastehenden Vertretern des Homo sapiens, die nicht mehr vorgeben, fuer alles eine Loesung finden bzw klare eindeutige und ''pragmatische'' Regeln aufbringen zu koennen: entsprechend meinem Eintrag ''Wahn und Wahrheitsverlust'' korreliert der neu heraufziehenden Verlustepoche des Menschen seine vermehrt auftretende Ratlosigkeit und sein genereller Verstaendnis-Verlust: aus common sense wird common loss of sense. Es duerfte daher nicht allzu sehr verwundern, dass nach all der verfliegenden Euphorie ueber das Projekt Aufklaerung und die moderne Gesellschaft der post- oder sonstwie moderne Mensch doch wieder nur bei Erkenntnissen aus der Antike ankommt und nunmehr definitiv verzeichnen darf, wie weise ein Sokrates (immerhin doch 469-399 vor Christus) war und wie richtig er lag, als er von einem seiner auch nicht grade talentfreien Schueler so zitierreif vernommen wurde: ''Ich weiß, dass ich nichts weiß.''

Diese Ratlosigkeit ergibt sich zu nicht geringen Teilen aus der Verstelltheit unseres Blickes auf diese Welt. Verluste nehmen wir meist gar nicht mehr als solche wahr, allein das Palaver im Vorfeld ist groß. Ganz zu schweigen allerdings von den wirklich stillschweigenden Verlusten. Diese werden nur subtil wahrgenommen, manifestieren sich aber nicht offensichtlich als Verlust oder wenn, weiß der moderne Mensch nicht mehr, was es eigentlich ist, dass er verloren hat. Manchem daemmert bereits, dass es sich bei diesem Verlust um die Sinnkonstante handeln koennte und man sich womoeglich in einem digitalen Diesseits zu verstricken beginnt.
Aber wie der Amerikanische Schreikranich machen wir einfach weiter und aendern nicht viel. Der Beschleunigung der erlebten Zeit und der Weltgeschichte waere nichts fremder als das Innehalten und Bewahren, ganz abgesehen von dem zeitraubenden Umgang mit sperrigen metaphysischen Konstanten wie dem Sinn oder dem Glauben an etwas.

Wir wissen, DASS wir handeln und DASS etwas geschieht, aber wir wissen nicht mehr und wollen recht eigentlich auch nicht mehr wissen, WARUM wir handeln und WARUM etwas geschieht.
Die Faktizitaet ist unser neuer Gott und daher hoeren wir allerorten von alternativloser Politik schwaermen und glauben auch weiterhin an manifestierten, handgreiflichen Zugewinn qua Konsum, zugleich uns aber die metaphysischen Verluste so unbewusst schmerzen.

Zugleich begegnen wir einer massiven Verkuerzung der Spanne zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Blicke auf diese beiden Zeiteinheiten werden zunehmend diffuser. In Richtung Vergangenheit geht unser Blick nur widerstrebend und kommt bereits im gerade erst vergangenen Jahrhundert, also vor 12 Jahren, mit einer Atemlosigkeit und Ungeduld an, die uns die bereits die eigene Kindheit als ferne Antike vermuten laesst. Nach vorn dagegen wirft sich der Blick nicht mehr weit und entwirft keine die menschliche Konstante ''verbessernden'' Projekte mehr. Eher spaeht man in die obskure Zukunft als eine Epoche der unmittelbar auf uns zueilenden Gegenwart, von der wir gar nicht mehr mutmaßen moegen, dass wir sie eventuell auch gestalten koennten, zumal nicht zum Besseren, was immer das wiederum auch sein koennte.
Wir sind gegenwartsverloren (d.h.: in der Gegenwart verloren, vergleiche die moderne Politik des ''Auf-Sicht-Fahrens'') und schauen gleich dem bereits vollends ermuedeten Wanderer zu Boden, statt wie der frisch zur Reise aufgebrochene Wandersmann voller Mut nach vorn und mit schoener Wehmut hier und da zurueck auf die Taeler, aus denen man aufbrach.
Nein, wir schauen zu Boden, ratlos, vollbeladen mit dumpfem Verlust und allzuviel schnoeden buntem Tand als Pack- und Ruestzeug auf unserem selbstbeschwerten Weg.

In dieser unserer Gegenwart koennen wir uns derweil aufmachen in die nordamerikanischen Sumpflandschaften der Grenze zwischen den USA und Kanada und werden mittlerweile wieder an die 400 Schreikraniche zaehlen. Der Mensch hat erst spaet gelernt, diese Art nicht, wie soviele andere zuvor, bis zur Besinnungslosigkeit zu bejagen oder ihr gaenzlich den Lebensraum zu entziehen und sie so auszurotten, sondern sie zu schuetzen und ausnahmsweise einmal (wenn auch nur vorerst) dem Verlust zu entreißen...wer aber rettet UNS...?

Verwandeln wir einmal das auf den Kranich gewandte Eingangszitat ein wenig:

''The Homo Sapiens lives out its life from day to day, quite unconcerned about its proper prospect for extinction...''

Wir sind dann vielleicht schon recht nah an der Bestimmung der Grundkonstante des Verlustmenschen, der mitsamt sovieler Dinge selbst mehr und mehr verlorengeht...aufmerksameren Lesern kommt beim Lesen des Zitates vielleicht gar der homo accomodans (siehe: ''Wahn und Wahrheitsverlust'') in den Sinn: ein trauriges Menschenbild fuerwahr, aber noch haben wir ja die Zeit, an wesentlicheren Fronten uns selbst zurueckzuerlangen.

Wir berauben uns aller Moeglichkeitem, wenn wir weiter wachsen, fressen, konsumieren wollen. Einmal mehr sei hervorgehoben, dass der Verzehr unserer Grundlagen sich irgendwann derart gegen uns wenden wird, dass er uns selbst verzehrt. Vielleicht sind dann wir es, die solche Briefe an einen dann jedoch unbekannten Adressaten schreiben, wie sie der Vertreter der Haeuptlinge des Algonkin-Volkes der Mohegan (nordamerikanische Indianer) im Jahre 1789 (!) an die ''white assembly'', sprich: die selbstherrlichen weißen Landesherrn aus dem Westen, schreibt:

''The Times have exceedingly altered, the times have turned everything upside down or rather: we have changed the good times. (...) Our ancestors, when they wanted meat, they would just run into the bush a little ways and would soon bring home rich prey and they had an ABUNDANCE (Hervorhebung von mir) of Nuts, wild fruit and beans (...), it all lay common to them all. They had but one large dish and they could all eat together in Peace and Love---but, alas, it is not so now: all our fishing, hunting and fowling is ENTIRELY gone....''

Harry Robert Ashpo Quaduaquid, Chief of the Mohegans

Es steht zu hoffen, dass wir nicht unseren Verlust zum einzig ewigen Wert machen...



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy