Wahn und Wahrheitsverlust---zur Beschleunigung unseres Menschenbildes

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Haben Sie auch, lieber Leser, in letzter Zeit das etwas verwirrende Gefuehl, dass da wo vor Jahren noch ein fester Rueckzugsort fuer Sie bereitstand, der Ihnen lieb und teuer war, sicher und stabil, an dem es ein klares festes Verstaendnis der Sie umgebenden Welt gab, das konzis war und die eigene Identitaet staerkend, dass eben dieser Rueckzugsort verloren gegangen ist und das Meiste Ihnen nur noch wirr erscheint, durcheinandergekehrt, kopfstehend und wie Illusion das erscheint, das noch vor Jahren eventuelle einigermaßen fester Glauben an etwas war oder dass Ihnen nunmehr ohne jeden Begriff zerfasert, was Sie einst noch mit Logik vollauf begreifen konnten?

Dann lassen Sie sich troesten, denn Sie sind nicht allein...Ihrem Naechsten ergeht es ganz genauso, denn wir leben noch mehr als allein in einer globalisierten in der digital-beschleunigten Zeit. Die Weltgeschichte tickt immer schneller und fuehrt uns ''live'' mit sich, wo sie frueher vielleicht anstaendig gewartet hat, bis wir tot oder zumindest alt waren. Jetzt aber tickt unser Leben immer schneller und der hektische Puls des Weltgeschehens verwirbelt Ideen und Institutionen, die wir festgefuegt glaubten.

Aber lieber Leser, dann haben Sie auch vergessen, wie sehr das Leben immer Bruch ist, immer Asymmetrie und Neuerung, indem nicht zuletzt auch katastrophische Ereignisse alles zum Neuen befoerdern. Nur, dass eben im beschleunigten Zeitalter eine ganze Epoche in den weltgeschichtlichen Beschleuniger geraet und sich daher die Aktionsdichte politischer Aktionen und Reaktionen derartig vervielfaeltigt in kuerzester Zeit, dass unser Weltverstaendnis, das nach wie vor von Kategorien des 20.Jahrhunderts und all der Zeit davor behaftet ist, nicht nachkommt bei all den Korrekturbuchungen. Wir sollten explizit zur Kenntnis nehmen, dass dem Menschen ein neues Zeitalter seiner Entwicklung unmittelbar bevorsteht. Aus den morosen Resten des Homo sapiens schaelt sich langsam der frisch heranwachsende Homo accomodans heraus...wovon aber rede ich eigentlich?

''Sometimes I can't help feeling that I'm
living a life of illusion and oh, why can't we let it be
and see through the hole in this wall of confusion,
so I just can't help the feeling I'm
living a life of illusion...and it comes with no warning that
Nature loves her little surprises
continual crisis...''

Joe Walsh, Life of illusion

''And it comes with no warning: Nature loves her little surprises...''

Zum Beispiel: Fukushima, die kleine Ueberraschung aus der Natur, die ploetzlich wie ein Dominostein eine Energietechnik weltweit in Frage stellt, die der Mensch sich einst als eine der elaboriertesten Techniken zur Erlangung großer Energiereserven ersonnen hatte.
Die Japaner haben dem westlichen Menschen und seinem panischen Selbstverstaendnis uebrigens vorgelebt, was der auffallendste Charakterzug des Homo accomodans sein koennte: seine gegenueber dem Homo sapiens noch viel groeßere Anpassungsfaehigkeit, seine nur sehr eingeschraenkte Befaehigung zur befohlenen und bestellten Angst (Panik), seine weise Ratlosigkeit und ein gewisses Maß an Verzicht auf Aktionismus, der nur vorantreiben will, aber nicht weiß, wohin eigentlich...

Der Homo accomodans (vom Lateinischen ''accomodare''---''sich einer Situation anpassen'') ist im Entstehen begriffen und er untersteht in seiner Artenbildung nicht laenger allein biologisch-genetischen (''rassischen'') Konditionen, sondern vor allem soziokulturellen Bedingungen. (Hier ist zu beachten, dass zwar der Begriff des ''Homo sapiens'' in der Terminologie der Biologie eine Artenbezeichnung ist, wie die jeder anderen Tierart auch. Allein: Homo sapiens ist ebenso ein Terminus der Anthropologie und damit ein kulturwissenschaftliches Konstrukt. Um dieses Konstrukt eines Menschenbildes wird es mir im weiteren Textverlauf gehen).

Der globalisierte Mensch muss in immer kuerzerer Zeit immer schneller auf immer mehr Reize und Aktionen reagieren. Der Homo accomodans passt sich den Verhaeltnissen an und richtet sein Selbstverstaendnis an der Tatsache aus, dass die einzig feststehende Wahrheit eine paradoxerweise zugleich hoechstdynamische Wahrheit ist: die Kinesis, die fortschreitende und unaufhaltsame Entwicklung, der beschleunigte Fortlauf aller Dinge und ihrer Zusammenhaenge. Unbewusst beschleunigt der Homo accomodans die Welt, bewusst nimmt er sie in der Beschleunigung unschaerfer und verwaschener wahr, als er dies zu tun pflegte, als er noch allein Homo sapiens war.

Bei alledem schwaecht sich der Begriff ''Wahrheit'' gewaltig ab, die Schrumpfungsmasse dieses Begriffes wiederum wandelt in das Wachstum des Phaenomens ''Faktum'' ueber. Das ''Faktum'' sei dabei definiert als der immer nur momentan bestehende Daseinszusammenhang der Welt. Hinter diesem Zusammenhang sieht der Homo accomodans kein anderes Prinzip mehr und schoepft daraus keinen Sinn mehr, als allein noch die reine Faktizitaet des Geschehenden. Anders gefasst: wo Sinn war, ist Tatsache geworden.

Zwar wird dann auch an der reinen Tatsache gedeutelt und interpretiert, aber der Homo accomodans hat gar keine Zeit mehr, eine ueberzeitliche und gemeinbindende Erklaerung fuer die Geschehnisse zu finden, die man einst ''Wahrheit'' nannte. Stattdessen also kommt es immerfort zu nur spontanen normativen Kommentaren, die uns deshalb aber nur in ein normatives Zeitalter der totalen Meinung fuehren. Wahrheit wird relativ...Fakt dagegen ist, was das neue digitale und netzwerk-generierte Bewusstsein im Moment! in der Mehrheit ''denkt''.

Aus diesem Wahrheitsverlust und dem Verlust des einstmalig klar geglaubten weiten Ueberblickes und der Durchdringung entsteht allerdings eine neue Mystifikation des Denkens: was wir nicht mehr interpretieren koennen, beginnen wir dann zu mystifizieren. Da wir gar nicht mehr die Zeit haben werden, tiefere Zusammenhaenge nach den Regeln einer methodisch tragbaren und allgemein-verbindlichen Logik zu benennen, wird das beschleunigte Zeitalter der Weltgeschichte ein fatalistisches sein, das zudem bei allem vermeintlich aktiven Handeln vorherrschend immer das Gefuehl des passiven Erleidens haben wird.

Das Verhaeltnis zwischen Aktion-Reaktion geht deshalb ohne die Befaehigung zur Ursachenbenennung in einem beliebigen Wechselspiel ineinander ueber:

-Jahrmilliarden vor einem Super-GAU war das Atom Grundbaustein der Natur, ein großer Super-GAU dagegen koennte alles wieder zurueckfuehren auf seine Grundbausteine hin.

-der Westen fuehrt Krieg gegen den Terror, nachdem er zuvor ueber ein Jahrhundert wie ein Terrorist in den Nahost-Territorien auftrat, deshalb wiederum fuehren arabische Terroristen, die sich als Opfer begreifen, massaker-artige Attacken gegen den Taeter ''Westen'', der so zum Opfer wird.

Warum aber ist das aus der Beschleunigung enstehende Weltbild also fatalistisch und neo-mystisch? Da das neue Weltbild des Menschen ein Fluidum darstellt, wird es Schuldzuschreibungen und Ursachenbennung schwer bis unmoeglich machen. Durch seine eigenen Beschleunigung und der der Weltgeschehnisse hat der Mensch keine Zeit und vor allem die Muße nicht mehr, alles ad posteriorem in einen sinnstiftenden Ueberbau einzuordnen, den man dann ''Wahrheit'' nennt und der Klarheit schafft und Sicherheit.

Das neue Weltbild aller Weltgeschehnisse als Fluidum, als chaotisch-dynamische Einstroemung von Aktionspotentialen unter hohen Geschwindigkeiten erzeugt einen Aktionsdruck und -stress, der dem Menschen die Zeit stiehlt, Dinge noch irgendwie tiefergehend mit Sinn oder transzendentalen Aspekten zu betrachten. Alles wird dann einfach nur noch geschehen und nichts mehr begriffen. Aber gerade dadurch wird sich das Menschenbild verduestern...aus dem Homo sapiens agitans ist dann der Homo accomodans geworden, der sich allem nur noch hingeben kann und selbst wenn er handelt, nur noch Erleidender ist.

Dies alles haengt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich das Welt-Bewusstsein (Intelligenz) zumindest der Potenz nach nur noch in Computern und digital clouds evaluiert, nicht aber mehr im bereits gaenzlich ueberforderten menschlichen Gehirn.

Die fortwaehrende Verwaschung und Aufloesung des Begriffes ''Wahrheit'' offenbart nur, dass hier eine Institution zerfaellt, die nicht mehr zurueckkonstruiert werden kann, in einer Zeit, in der wir lernen, dass die einzige 'Wahrheit'' nur und ausschließlich ein Faktum ist: die Veraenderung von Zustaenden, eine Veraenderung, die immer vielfaeltiger immer schneller auf uns einprasseln werden.
Wir stellen jetzt fest, dass ''Wahrheit'' maximal immer nur den Deutungskonsens bedeutet hat, auf den wir uns im jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang in der Mehrheit einigen konnten.
Nun erreicht uns die Erkenntnis, dass wir allein ''Ereignissen'' gegenuebergestellt sind und jeglicher darueber hinausgehende Interpretationsansatz (falls wir ueberhaupt noch Zeit haben zum Ausdeuten der Geschehnisse) ein belustigender Zeitvertreib ist, der aber weder Sinn noch Zusammenhang stiftet.

Selbst das Beschreiben all dieser Aufloesungszustaende also ordnet sie nicht mehr zu einem sinnstiftenden Gesamtzusammenhang: das neue Weltbild des Menschen ist bereits da, wir bilden es selbst, Tag fuer Tag neu jetzt, Tag fuer Tag, denn wer mag noch in Jahren rechnen...?

Das an sich selbst bewunderungswuerdige Erstaunen des aussterbenden Homo sapiens koennte nun uebergehen in den Stupor des kommenden Menschen...



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy