In Boris Johnsons Churchill-Biografie wird die Geschichte eines alternden Journalisten erzählt, der zum Politiker wird. Trotz seines Reichtums gelingt ihm nichts, bis er wegen einer nationalen Krise plötzlich Premierminister wird. Wenn alles gut läuft, will Johnson Mitte Juli seinen Helden nachahmen. Das in einer nationalen Krise, die er selbst mit produziert hat.
Die gut 120.000 Mitglieder der Konservativen Partei werden Britanniens nächsten Regierungschef wählen. Sie sind zu 97 Prozent weiß, zu 71 Prozent männlich und haben ein Durchschnittsalter von etwas über 65 Jahren. Nur 0,75 Prozent von ihnen sind Frauen unter 24. Obwohl sich jetzt 13 konservative Parlamentarier für die erste Runde bewerben, ist es fast sicher, dass Johnson, bevor es in die Stichwahl geht, eine Mehrheit erhält. Nicht, weil er der Fähigste ist, die klarste Politik zu bieten hat oder auch nur am geschicktesten damit umgeht, die Vorurteile der Partei zu bedienen. Er ist Favorit, weil er sein Leben lang dem britischen Stereotyp des elitären, egozentrischen Narren entsprochen hat.
Als Journalist in Brüssel schürte er EU-Feindlichkeit mit erfundenen Fakten. 2004 wurde er aus dem Schattenkabinett entlassen, nachdem er Liverpool beschuldigt hatte, sich wegen des Terroranschlags auf einen britischen Ingenieur in Bagdad „in Trauer zu suhlen“. Als Bürgermeister von London gab er 300.000 Pfund für zwei Wasserwerfer aus, die ausrangiert werden mussten, da die Polizei sich weigerte, sie zu benutzen. Zudem wollte er ohne Ausschreibung eine Brücke über die Themse bauen, bis das Projekt 2017 wegen zu hoher Kosten kassiert wurde, aber schon 53 Millionen Pfund gekostet hatte. Als Außenminister hinterließ Johnson eine Spur diplomatischer Ausrutscher vor laufender Kamera. So wurde er 2017 in Myanmar gefilmt, als er pro-imperialistische Poeme Rudyard Kiplings zitierte, während der britische Botschafter versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen.
Markenzeichen seiner Karriere waren rassistische Anspielungen, sie reichten von einer Beschreibung „grinsender kleiner schwarzer Kinder“ in Afrika, die einen königlichen Besuch aus London begrüßten, bis hin zu der Behauptung, muslimische Frauen mit Niqab sähen wie „Bankräuber“ aus. Das fand durchaus Resonanz im tief verwurzelten Rassismus alternder britischer Vorstadtmilieus.
Johnsons Marsch an die Macht begann im Sommer 2018. Nachdem er beim schicksalhaften Chequers-Treffen Theresa Mays Brexit-Plan zugestimmt hatte, folgte zwei Tage später die Demission. Danach besorgte er sich eine neue Frisur, ließ sich scheiden und veröffentlichte Details über eine Affäre mit einer 30-jährigen Politikberaterin der Konservativen. All das wurde als Zeichen dafür gedeutet, dass er „ernsthaft“ den Plan verfolgte, Premierminister zu werden.
Seine Rivalen sind zwei politischen Lagern zuzuordnen: Die einen stehen in der Eine-Nation-Tradition der Konservativen, die eine paternalistische Sozialpolitik bevorzugt und sich normalerweise aus Kriegen heraushält, die anderen bekennen sich zum atlantischen Bündnis, wollen eine starke Deregulierung, den klaren Bruch mit der EU und die geopolitische Bindung an Washington. Die aussichtsreichsten Bewerber lassen sich in jene einteilen, die einen Brexit ohne Deal anstreben, und die anderen, die einen drohenden „No Deal“ nutzen wollen, um einen neuen „Deal“ zu bekommen. Johnson fällt in diese Kategorie. Dabei stehen alle Kandidaten vor einem strategischen Problem. Eine aufsteigende Brexit-Partei spaltet die Konservativen. Nigel Farage kann seinen Verein, ein Privatunternehmen ohne Politik oder Mitglieder, als permanenten Hebel nutzen, um die Tories nach rechts zu zwingen. Unter diesen Umständen ist Johnson vor allem Pragmatiker. Wenn er die Macht will, muss er sich in der ersten Phase seines Kampfes um den Parteivorsitz stark in Richtung Mitte bewegen. Schließlich braucht er die Unterstützung diverser moderater Parlamentarier. Andererseits wurde Farage durch den Ex-Außenminister nie offen angegriffen, womit die rechte Flanke gesichert wäre.
Sollte Johnson im Juli Premierminister werden, ist damit zu rechnen, dass er umgehend mit zahlreichen Aufmerksamkeit heischenden, aber folgenlosen Aktionen aufwartet, um im Oktober eine „No Deal“-Krise auszurufen, durch die er wenigstens ein Freihandelsabkommen mit der EU zu erreichen hofft. Solange Farages Partei am Start ist, kann er keine Wahl riskieren und muss in härterer Form als May „den Brexit liefern“.
Ohne sich von seinen endlosen Possen vereinnahmen zu lassen, bleibt als Fazit, dass es sich bei Johnson um einen proatlantischen Sozialliberalen handelt, der wohl mit der Sparpolitik brechen wird, die seit 2010 Kern der Tory-Doktrin ist. Er verkörpert eine Klasse, die in Eton oder anderen Elite-Universitäten herangebildet wurde und deren Sprech- und Denkweise von der Illusion zehrt, noch immer ein Weltreich zu lenken. Weil kein Weltreich mehr da ist, muss die Illusion durch Ironie – deshalb das Possenreißen – erhalten werden. Anstelle der harten Schufterei, die Imperialismus mit sich bringt, statt sich in der Wüste abzurackern oder in einem Büro der Eisenbahnverwaltung in Kalkutta zu schmoren, hat Johnsons Generation immer nur die Kriegsfilme zu sehen bekommen. In der Biografie über den Mann, der das Land durch den Zweiten Weltkrieg führte, schreibt der Autor, alle jungen Tories wollten Churchill sein. Doch weil sich das Weltgefüge und die britische Zivilgesellschaft verändert haben, gehen sie leer aus. Boris Johnson weiß das, aber seinen Part spielt er trotzdem weiter.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.