Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon“
Marie Rotkopf, "Die deutsche Mentalität und der Krieg“
Marie Rotkopf hat den klugen Satz in der von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift „Deutschland über alles“ geschrieben. Verfasst hatte den Text der französische Soziologe Emile Durkheim 1915 während des 1. Weltkriegs angesichts der brutalen Kriegsführung der deutschen Wehrmacht, die heute kaum mehr bekannt wird. Das liegt auch daran, dass die Mehrheit der Deutschen und nicht nur der Nazis 25 Jahre später für die Menschheitsverbrechen der Shoah verantwortlich waren.
Vielleicht hat der jüdische Gelehrte Durkheim in seiner letzten Schrift kurz vor seinen Tod einige Wahrheiten über die Deutschen veröffentlicht, die wären sie breiter rezipiert wurden, die deutschen Verbrechen nach 1933 hätten verhindern können, weil man den Tätern früher in den Arm gefallen wäre. Im Klappentext des Buches klingt diese Hoffnung an: „Hätten wir Durkheim genauer zugehört, wär die Geschichte vielleicht einen anderen Weg gegangen.“ Wir wissen es nicht. Wir können aber in Durkheims Text lesen, dass damals schon bürgerliche Liberale die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus erkannt haben. Dabei geht Durkheim besonders auf die Rolle einflussreichen Historikers Heinrich von Treitschke ein.
Es ist erfreulich, dass der Verlag Matthes & Seitz diese fast 110 Jahre alte Deutschlandkritik wiederaufgelegt hat. An ihr gäbe es aus einer linken Perspektive viel zu kritisieren, vor allem ihr Bezug auf Durkheims Aporie auf die bürgerliche Zivilisation. So verwendet Durkheim öfter die Formulierung von "den zivilisierten Völkern" von denen sich Durkheim angeblich entfernt hat. Besonders auffallend ist der Eurozentrismus des Textes, der die Kolonialverbrechen der so hochgelobten zivilisierten Welt an den Menschen im globalen Süden völlig ignoriert. Dazu gehören auch die Kolonialverbrechens von Deutschlands Gegnern im 1. Weltkrieg.
Unbesschadet dieser Kritik ist die Schrift lesenswert. Hier erfasst Durkheim die besondere Ausprägung des deutschen Nationalismus und sein frühes Nie wieder Deutschland ist auch noch 110 Jahren mit Gewinn zu lesen. Besonders, weil sich die Herausgeberin Marie Rotkopf kluge Gedanken über Durkheims Schrift und seine Aktualität gemacht hat. Dabei geht sie auch auf den neuen deutschen Militarismus ein, der sich in der Parteinahme für „unsere Ukraine“ ausdrückt. Das Zitat am Anfang des Textes zeigt, dass Marie Rotkopf zu denen gehören, die auch im Jahr 2023 noch keinen Frieden mit Deutschland gemacht haben. Vor 30 Jahren wäre der schmale Band bei deutschlandkritischen Linken ein Beststeller geworden. Viele von ihnen haben heute die Parole „Nie wieder Deutschland“ durch „Nie wieder Russland“ getauscht und so verspätet doch noch Anschluss an die deutsche Volksgemeinschaft gefunden. Die kleine Schrift von Durkheim und Rotkopf ist so eine Flaschenpost aus einer Zeit, wo es undenkbar schien, dass kritische Linke einen Staat bedingungslos unterstützen, in dem zeitwelige Nazikollaborateure und Antisemiten wie Stepan Bandera Denkmäler gesetzt werden.
Peter Nowak
Lesung
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Marie Rotkopf und Frank Witzel im Gespräch
19. April 2023 à 19h
DEUTSCHLAND ÜBER ALLES
Die deutsche Mentalität und der Krieg
(1915)
von Émile Durkheim
Herausgegeben und mit dem Essay ZONE LIBRE von Marie Rotkopf
Großbeerenstr. 57A
10965 Berlin
Marie Rotkopf, Émile Durkheim, "Deutschland über alles. Die deutsche Mentalität und der Krieg", Verlag Matthes & Seitz, 155 Seiten, Übersetzung: Daniel Creutz, Jacques Hatt, Preis: 18,00 €, ISBN: 978-3-7518-0381-6
Über den Antisemitismus von Treitschke informiert die von Nicolaus Berg im Suhrkamp-Verlag und dem Jüdischen Verlag gemeinsam wieder aufgelegte Schrift "Der Berliner Antisemitismusstreit"
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