Das Gemecker ist der Background-Chor

Eurovision Song Contest Die semiotische Suppe des ESC schmeckt nicht jedem. Die Beschwerde über die „mangelnde Qualität“ gehört deshalb zu den Standardreaktionen
Ausgabe 20/2018
„I am not your toy! You stupid boy!“
„I am not your toy! You stupid boy!“

Foto: Francisco Leong/AFP/Getty Images

Der Eurovision Song Contest (ESC) ist berühmt für seine ästhetische Unzuverlässigkeit. Abgenudelte Genres und schlechte Kopien angloamerikanischer Pop-Stile tauchen hier genauso auf wie charmante Retronummern oder aufregende Songs auf der Höhe der Zeit. In Zeiten der „Retromania“ relativiert sich der Unterschied zwischen aktuell und ausrangiert ohnehin. Aus dem Archiv der Popmusik der letzten 50 Jahre ist alles mal recycelt worden. Hipness manifestiert sich kaum in der Neuheit des Materials, sondern darin, zum richtigen Zeitpunkt einen Treffer zu landen. Das hängt im Kontext digitaler Kultur davon ab, welches affektive Angebot eine Nummer machen kann, welche Intensität und Intimität sie in den vorgeschriebenen drei Minuten herstellen kann.

Lokale Berühmtheiten konkurrieren hier mit Popstars kurz vor der Rente (Engelbert Humperdinck, Bonnie Tyler) und talentierten Newcomern (Lena). Der Eklektizimus des ESC ist aus queerer Perspektive stets gefeiert worden. Hier kann jedes Scheitern und jede Scham – zu große Frisuren, zu billige Bühnenoutfits – in queeres Kapital umgemünzt werden. Aber die semiotische Suppe des ESC schmeckt nicht jedem. Und bei aller Bedeutung, die einem queeren Blick beim ESC zugebilligt wird, in der Produktion genauso wie in der Berichterstattung, gehört auch die Beschwerde über die „mangelnde Qualität“ zu den Standardreaktionen. Oftmals verläuft diese Kritik entlang der Achsen high/low und kommerziell/nichtkommerziell – Kategorien, die in der Geschichte von Pop nicht ohne Bezüge zu Gender und Sexualität sind.

Gemeckert wird oft schon beim deutschen Vorentscheid, wo dann Gesangsqualität oder musikalisches Talent brav gelobt werden, als ginge es um den Klassikwettbewerb „Jugend musiziert“. Dass ein ESC-tauglicher Song diese Prüfungsaufgaben besteht, ist eher die Ausnahme. Michael Schulte gelang das Kunststück mit einer ordentlich gemachten Ballade, die von Ed Sheeran hätte sein können. Unterstützt von einer gelungenen Bühnenpräsentation landete er verdient auf Platz vier.

Um den Gewinnersong aber tobten jene Kämpfe, die für den ESC typisch sind. 2017 gewann der Portugiese Salvador Sobral den ESC mit einer hübschen Jazz-Pop-Ballade. Während Conchita Wurst 2014 die Bühne dafür nutzte, die Rechte sexueller Minderheiten für ganz Europa zu fordern, fühlte sich Sobral nach dem Triumph seiner sparsamen Performance darin bestärkt, ein Ende der „Supermarkt-Musik“ zu fordern – „Musik ist kein Feuerwerk!“, sagte er.

Wie ernst es Sobral mit seiner Qualitätsprüfung meinte, wurde vergangene Woche in Lissabon deutlich. Im Interview mit einer portugiesischen Zeitung kommentierte er den Song Toy der Israelin Netta Barzilai: „Ein furchtbares Lied. Nichts hat sich geändert.“ Während Sobrals Diss die Unterstützung des niederländischen Sängers Waylon (Platz 18) fand („Der ESC ist ein Zirkus“), hat sich nicht nur die queere Fanbase, sondern ganz Europa mehrheitlich hinter den lustigen Chicken-Dance von Netta gestellt. Mit ihrem cleveren Beitrag zur #MeToo-Debatte („I am not your toy! You stupid boy!“) gewann sie den diesjährigen ESC. Gerade der Massengeschmack zeigt sich beim ESC oft genderpolitisch und ästhetisch avancierter als das Votum der Musik-Profis.

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