Endlich darf er „ich“ schreiben

Literatur Den Jahrhundertschriftsteller Gustave Flaubert lernt man am besten in seinen Briefen kennen
Ausgabe 49/2021
Gustave Flaubert; Holzstich von Hermann Paul, ca. 1900
Gustave Flaubert; Holzstich von Hermann Paul, ca. 1900

Foto: Imago/Leemage

Jetzt, da Flauberts Prosa zu seinem 200. Geburtstag längst vollständig vorliegt, ausgiebig kommentiert, ediert und mit wichtigen Quellen komplettiert ist – zuletzt übrigens mit den wunderbaren Übertragungen Elisabeth Edls (Memoiren eines Irren oder Lehrjahre der Männlichkeit, beide im Hanser-Verlag) –, jetzt also wäre doch der ideale Zeitpunkt, sich als Leser seine eigene Biografie über Leben und Werk von Gustave Flaubert zusammenzubasteln. Über einen Schriftsteller, der in einem seiner unzähligen Briefe bemerkt: „Es ist eines meiner Prinzipien, dass man sich nicht selbst beschreiben soll. Der Künstler muss in seinem Werk wie Gott in der Schöpfung sein, unsichtbar und allmächtig; man soll ihn überall spüren, ihn aber nirgends sehen.“

Das mag natürlich auf seine Madame Bovary zutreffen, die vielleicht berühmter als ihr Schöpfer ist. Aber trifft diese Anonymität auch auf den leidenschaftlichen Briefschreiber Flaubert zu? Eher nicht, denn bei dieser Tätigkeit lässt der sonst so Kontrollierte „die Feder laufen“, sie kratzt nicht tagelang – kaum vorwärts kommend – wie auf den Romanseiten herum. Endlich darf der Romancier das verbotene „Ich“ schreiben, Gefühle ausdrücken, sich spielerisch oder analytisch Gedanken zum eigenen Werk und das der anderen machen, für die Geliebte Süßholz raspeln, ordinär und ausfallend werden, bei Gelegenheit auch jämmerlich, zynisch, larmoyant und (für die Nachwelt) visionär.

Der Baukasten für diese individuelle Biografie ist in Deutschland mit Aberhunderten Dünndruckseiten bereits gut bestückt – einiges muss man sich antiquarisch zusammenklauben: darunter unbedingt die Korrespondenz mit Louise Colet, seiner langjährigen älteren Geliebten und literarisch bei Weitem nicht gleichberechtigten Schriftstellerkollegin, natürlich mit dem Bel Ami Guy de Maupassant, Flauberts Zögling, und mit seiner ebenbürtigen Freundin, der „lieben Meisterin“ George Sand. Oder mit den Dandy- und Salon-Literaten, den Brüdern Goncourt und zuletzt mit dem russischen Schwergewicht Iwan Turgenjew – diese Briefe zeugen von innigster Verbundenheit zwischen zwei Maulwürfen, „die ihre Gänge in dieselbe Richtung graben“. Es gibt noch einige Best-of-Sammlungen und versprenkeltes Bonusmaterial in diversen Prosa-Bänden, die noch andere Adressaten bereithalten, etwa den Jugendfreund Maxime Du Camp, mit dem der abgebrochene Jura-Student Flaubert durch die Bretagne und den Orient zog.

Es ist ein anregender Spaß, irgendwo zu einer der schriftlichen Plaudereien, die uns längst im eigenen menschlichen Austausch unwiederbringlich abhandengekommen sind, zufällig dazuzustoßen. Über das Fehlen biografischer Eckdaten, die einem die aktuelle Lebenssituation Flauberts kurz erläutern, muss man sich als Leser nicht sorgen: Sie finden sich im Anhang.

Flaubert war lauffaul

So erfährt man, dass der eigenbrötlerische und lauffaule Flaubert am liebsten abgeschottet in einen „Elfenbeinturm“ eingezogen wäre. Letzterer heute übrigens nur noch „Kampfbegriff und Klischee“, wie der Stilkritiker Michael Maar in seinem tollen Buch Die Schlange im Wolfspelz in einem anderen Zusammenhang treffend bemerkt.

Aber Flaubert musste hinsichtlich dieses filigranen Bauwerks in seiner Korrespondenz mit Turgenjew betrübt feststellen, dass ein Einzug ein unerfüllter Wunsch bleiben muss, denn „eine Flut von Scheiße schlägt an seinen Mauern, so dass sie einzustürzen drohen“. Am 16. Januar 1852 schreibt er einen seinen wohl berühmtesten Briefe, in dem es heißt: „Was mir schön vorkommt, was ich machen möchte, das ist ein Buch über nichts, ein Buch, das an nichts Äußerem hängt, das sich nur durch die innere Kraft seines Stils von selbst hält, so wie die Erde sich, ohne gestützt zu werden, in der Luft hält, ein Buch, das fast kein Thema hätte.“ Über diese Worte kann man lange nachdenken und vielleicht ganz polemisch im Goncourt-Zoten-Duktus zum Schluss kommen, dass es heute leider zu viele Bücher „über nichts“ gibt – und die nicht einmal mit Stil. Über den unvergleichlichen Flaubert-Stil dachte auch Jean Améry vor genau 50 Jahren in seinem Geburtstagsartikel nach: diese „adjektivisch hochgenaue Prosa“, diese „majestätische Schwermut der Metaphern“. Und wie es Flaubert gelang, die Außenwelt „selbst zum inneren Monolog“ werden zu lassen. Flaubert hätte dazu vielleicht nur zynisch angemerkt: „Es ist viel leichter zu diskutieren als zu verstehen.“

Unter anderen von Elisabeth Edl neu übersetzt: Memoiren eines Irren Gustave Flaubert Hanser 2021, 240 S., 28 €

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