Literatur ist wetterwendisch: Zum 80. Geburtstag von Michael Krüger
Besuch Michael Krüger machte den Hanser Verlag groß, begleitete Orhan Pamuk nach Stockholm und wird nun 80 Jahre alt. Sich und seinen Fans schenkt er dazu das Buch „Verabredung mit Dichtern“
Wo mit der Beschreibung eines Lebens anfangen, wo aufhören – zumal der Mensch, der es führt, nicht ans Aufhören denkt? Eines Lebens, das mit Tausenden Anekdoten, Begegnungen und einem Wissensschatz vollgestopft ist wie ein schwer beladenes Buchregal, das zu kippen droht. Dazwischen stehen noch die vielen von ihm selbst verfassten Bücher – Romane, Erzählungen und, am allerwichtigsten: die Gedichtbände. Von den von ihm herausgegebenen Anthologien und Werken, zu denen er Vor- oder Nachworte beisteuerte, ganz zu schweigen.
Einmal drohte dieses Leben unwiederbringlich zu kippen. Das war vor vier Jahren, als der ehemalige Verleger Michael Krüger an Leukämie erkrankte. Wegen eines geschwächten Immunsystems galt er in Coronazeiten als „
ls „Hochrisikopatient“. Der Dichter begab sich in die totale Isolation in sein Holzhaus am Starnberger See, um jeder denkbaren Ansteckungsgefahr zu entgehen. Eine Chemotherapie musste er nicht machen. „Nur Tabletten. Gott sei Dank. Man behält seine letzten Haare“, wie er damals in einem Interview sagte und es einem heute noch so erzählt, auch wenn man ihm die Frage „Wie geht’s Ihnen heute?“ gar nicht stellt. Denn man muss ihn nur anschauen, er sieht sehr gut aus.Aber selbst jene düstere Zeit nutzte er zum Schreiben. Mit unprätentiösen Prosagedichten ohne bemühte Neologismen machte sich Krüger auch ohne Reim einen Reim auf diese Welt. Meist betrachtete er hierfür die Natur, das Wachsen der Gräser, des Apfelbaums, der Birke. Sie diente ihm als Metapher für so vieles: für das Abschiednehmen und die Vergänglichkeit. Seine Gedichte erschienen im Süddeutsche Zeitung Magazin. Daraus wurde später natürlich auch wieder ein Buch. Im Wald, im Holzhaus erschien 2021.Am 9. Dezember wird der literarische Netzwerker 80 Jahre alt. Neuerdings trägt er den Titel des Poeta Laureatus (das Bundesverdienstkreuz erster Klasse und viele weitere Auszeichnungen hat er längst). Zuvor machte er Hanser in seiner Rolle als Verleger bis 2013 zum wichtigsten Verlagshaus Deutschlands neben Suhrkamp und war nebenbei, wenn man das so salopp sagen darf, Herausgeber der Zeitschrift Akzente von 1981 bis 2014. Und jetzt ist gerade bei Suhrkamp noch ein Buch von ihm erschienen: Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen, 450 Seiten dick.Unser Treffen haben wir in seiner neuen Wohnung vereinbart, wenige Stunden bevor er zu einer Lesung aufbrechen muss. Krüger hat jetzt nicht nur am Starnberger See und in München ein Zuhause, sondern auch in Berlin, wo er, in einem kleinen Dorf in Sachsen-Anhalt geboren, aufwuchs.Die Tür steht auf, beim Eintreten sieht man ihn an einem großen Tisch sitzen, den aufgeklappten Laptop vor sich, als müsste er noch in dieser Sekunde eine wichtige E-Mail beenden. Einen Einfall jedoch, etwa für eine Gedichtzeile, notiert er sich weiterhin mit der Hand auf einen Zettel. Das Arbeitszimmer ist groß, karg eingerichtet und hell erleuchtet. Hinter seinem Stuhl steht ein hohes Buchregal, das nach geschätzt vier Metern die Stuckdecke kitzelt und doppelt so breit ist. Der Blick fällt, der großen Buchstaben auf dem Buchrücken wegen, auf eine Flaubert-Biografie; die Übertragungen des französischen Dichters durch Elisabeth Edl für die Hanser-Klassiker-Reihe hatten Maßstäbe gesetzt.Mehr möchte man als höflicher Gast auch nicht inspizieren – ist eh klar, dass einer wie Michael Krüger sich nicht die „Mainstream“-Literatur ins heimische Regal stellt, ärgert er sich doch darüber, dass heutzutage „riesige Summen für drittklassige Romane und halbseidene Sachbücher ausgegeben werden, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie nach drei Monaten wieder vergessen sind“, wie er schreibt.Man kann sich gut vorstellen, wie die Klaviertöne von Schuberts Impromptus, gespielt von Krügers Freund Alfred Brendel, hier übers Fischgrätparkett schweben und die Akustik eines kleinen Konzertsaals simulieren.Wir nehmen aber in dem durch Flügeltüren verbundenen Wohnzimmer Platz, falls es ein solches ist und nicht bloß ein irgendwie bespielter Raum mit Blick auf das Auktionshaus Grisebach und das Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße. Auch hier alles karg und Bauhaus-luftig eingerichtet. Die eigentliche Bibliothek stehe dahinten, sagt Krüger und zeigt in die unbeleuchteten Tiefen seiner Wohnung.Auf dem flachen Tisch liegt verstreut die zerzupfte Tagespresse, unter einer Zeitungsseite lugt aufgeschlagen der neue Handke hervor. An dessen 80. Geburtstag musste Krüger im vergangenen Dezember der zeitgleich stattfindenden Beerdigung eines anderen Freundes, Hans Magnus Enzensberger, den Vorzug geben.Zum 70. Geburtstag beschenkte Krüger Handke bereits mit einem seiner nonchalanten Gedichte. In Was noch zu tun ist heißt es am Ende: „Und nicht vergessen: den Ort aufsuchen, wo sich das Buch versteckt hält, das Buch mit den leeren Seiten, das leere Buch, das Buch.“ Leere Seiten? Denen ist bei Krüger wahrlich nur ein kurzes Leben beschieden.Das Cover von Verabredung mit Dichtern zeigt ihn bei der Durchsicht eines Büchleins, zusammen mit dem tschechischen Dichter Jan Skácel, dessen Name wohl nur Eingeweihten geläufig ist. Warum nicht ein Foto mit den Nobelpreisträgerinnen und -trägern Hertha Müller und Orhan Pamuk (die er, wie viele weitere, stets nach Stockholm begleitete, samt ausgeliehenem Frack) oder mit den einstigen (und ewigen) Anwärtern auf diese Auszeichnung wie Philip Roth oder Umberto Eco, die Krüger verlegte und betreute? „Skácel ist einer der ganz Großen, der keinen Preis gekriegt hat“, sagt Krüger. „Und da mein Buch sicher auch von Kollegen gelesen wird, werden sie sehen, dass ich mich eben immer sehr für Lyriker engagierte. Sie gehörten ja mal zur Literatur. Heute sagen die großen Verlage, man müsse mit der Lyrik zu den sogenannten kleinen Verlagen gehen.“ Die interessierten sich eher für solche Sachen, die – wie Günter Eich gesagt habe – „wie Sand statt Öl im Getriebe“ seien. „Ich beklage das nicht. Es ist eben so“, behauptet Krüger. Doch man merkt, dass ihn genau diese Entwicklung ziemlich umtreibt.Er wird dabei nicht aufbrausend, sondern bleibt ein ausgesprochen ruhiger Gesprächspartner – nur im Vorwort seines Buches spürt man ein wenig Zorn. Er will sein neues Werk auf keinen Fall als „Memoiren“ gelten lassen, sagt er, vielmehr als „den Versuch, ein paar Schlaglichter aus meinem zufälligen Leben aufzuschreiben“.Der Band quillt über vor prominenten und weniger bekannten Namen, ein Verzeichnis gibt es nicht. „Ich wollte nicht, dass jemand reinguckt und sagt: ‚Ich komme da nicht vor, aber der kommt vor!‘“, sagt Krüger. Vage Orientierung bieten nur die Kapitelüberschriften wie „Meine (Schreib-)Tische in New York“ oder jene, die explizit seine Freunde wie Walter Höllerer oder Klaus Wagenbach ausweisen. Ein Schelm, wer das Buch als E-Book liest und etwa bei Elias Canetti auf elf Treffer kommt.Es soll – das ist schon im Buch angedeutet – eine Fortsetzung geben. Es gebe einfach zu viele Autoren, die noch unerwähnt geblieben seien. „Ich habe über all diese Menschen ja schon irgendwann einmal geschrieben in Nachworten, Nachrufen, für Preisverleihungen, Geburtstage, weiß der Deibel! Das sind 30 laufende Meter Leitz-Ordner. Da möchte ich noch einmal das eine oder andere herauszupfen.“Ein weiteres Projekt, das er angehen wolle, sei ein „Essay oder ein Büchlein“ über die israelischen Dichter, „die einst nach Israel kamen, aber kein Hebräisch konnten. Aber sie lernten diese alte große Sprache. Es wäre in etwa so, als wenn Heinrich Böll ein Grieche gewesen wäre oder Siegfried Lenz ein Türke. Mit einer neuen Sprache wurden sie zu großen Dichtern, die bis heute in Israel als solche gefeiert werden wie etwa Jehuda Amichai, 1924 in Würzburg geboren.“Mit dem Kapitel „Meine israelischen Dichter“ hat er in seinem neuen Buch für diesen Essay schon einen Grundstein gelegt. Ob dieses Projekt vor oder nach einer „persönlichen Literaturgeschichte“ angegangen werden soll, bleibt unklar. Jedenfalls hat er über den Inhalt nicht nur vage Vorstellungen. „Was sind eigentlich die Bücher, die mich wirklich heftig ergriffen haben und warum? Ich möchte auch die Reihenfolgen der Lektüren beschreiben. So habe ich Flaubert oder Dickens gelesen und gleichzeitig die Gedichte von Nicolas Born.“Es solle ein „Lesen-Leben“ werden, sagt er, der auch ein unermüdliches Schreiben-Leben führt. Ja, warum schreibt man eigentlich und dann noch so viel? „Früher habe ich darauf immer freudianisch geantwortet: Einen Abgrund, den man hat, den schreibt man zu. Heute schreibe ich, um mir bestimmte Sachen klar zu machen. Meine kleine Manufaktur besteht aus nichts anderem als Vergewisserungsgeschichten“, sagt er.„Ich kann also gar nicht schnell sterben“, sagt Krüger und lacht ein wenig in sich hinein. Zumal jeden Tag Anfragen kämen, ob er einen Rat wisse, eine Empfehlung schreiben könne oder ob ihm jemand einfiele. „Ich bin wie ein Verlagsbüro.“In diesen Vergewisserungsgeschichten blättern wir noch ein wenig im Literaturhaus, bis die Lesung beginnt, da er sich noch etwas ausruhen will. Aus den „Szenen einer Nachkriegskindheit zwischen Nikolassee, Schlachtensee und Wannsee“, die 100 Seiten umfassen, wird er gleich lesen.Die Buchhandlung Winter liegt in der ruhigen, fast unzerstörten Giesebrechtstraße und ist wie so viele in Charlottenburg und Wilmersdorf ziemlich gut sortiert. Der schlauchförmige Raum ist bis auf den letzten der 70 Stühle besetzt. Die Schriftstellerin Nora Bossong soll die eineinhalb Stunden moderieren, wird aber gerade einmal ein paar Stichworte in Richtung Krüger geben, der sich schon erhoben hat und lieber am Stehpult steht. Er ist ein Meister des unaufhaltsamen, sich selbst moderierenden Monologs. So erzählt er von seinen drei Jahren als Verkäufer in der Buchhandlung des legendären Kaufhauses Harrods in London und dem nicht gerade erfolgreichen Versuch, dem Librarian of the Queen – „ein snobistisch aussehender Herr mit Nelke im Knopfloch“ – eine Ausgabe von Heimito von Doderers Strudlhof Step (Die Strudelhofstiege) schmackhaft zu machen. Das ist natürlich sehr komisch. Krüger vermischt den eigenen Text mit ironischer Improvisation und spricht sein Publikum mit „Euch“ an. Er saß in zu vielen zähen Lesungen, um nicht zu wissen, dass man es nicht langweilen darf.Einmal spricht er davon, wie „wetterwendisch“ die Literatur doch sei, das Vergessen gehe sehr schnell. Ein Bewahrer der Literatur ist an diesem Abend, der naturgemäß mit ein paar Gläsern Wein zu Ende geht, auch gekommen: Michael Maar. Seine weltliterarische Stilkunde Die Schlange im Wolfspelz (2020) liest sich wie ein Kommentar zum Literaturverständnis Krügers. Das Wetter draußen wendet sich derweil langsam in winterliche Kälte. Zwischen den Buchregalen bleibt es aber noch einen Augenblick lang warm.
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