Geld vom Himmel

Orakel Die Astrologie ist mal wieder groß im Kommen: Apps wie Co-Star dichten uns eine Zukunft und verdienen ganz gut daran
Ausgabe 02/2020
Geld vom Himmel

Collage: der Freitag, Fotos: Getty Images

Jeden Morgen um elf Uhr bekomme ich eine Benachrichtigung von Co-Star auf mein Handy. Mein Tageshoroskop, knapp zusammengefasst: „Your head will spin in a good way today.“ Ich spüre Widerwillen, an das digitale Horoskop der App zu glauben, aber die Botschaften klingen so poetisch: „Do you find yourself intellectualising your emotions instead of experiencing them?“ Ich mache einen Screenshot, teile ihn per Instagram-Story. Kurz darauf kommentiert eine befreundete Künstlerin: „Co-Star = God“. Entzauberung der Welt – das war einmal.

Eigentlich aufgeklärte Leute vertrauen den Sternen, und auch ich würde gerne glauben, dass die unübersichtliche Welt einem Plan am Himmel folgt. Wir sind nicht allein. Co-Star hat über sechseinhalb Millionen Nutzer, alle angeschlossen ans größte Wissensreservoir, das es je gab – das Internet –, aber trotzdem in dem Empfinden geeint, dass die Sterne Halt bieten in der transzendentalen Obdachlosigkeit. Die App ist nur ein Angebot von vielen. Es gibt Instagram-Accounts und Podcasts zu Horoskopen und Sterndeutung per Livestream. Astrologie ist wieder da, aber anders als im Eso-TV und in den unzähligen Zeitschriftenhoroskopen vergangener Jahrzehnte: individuell zugeschnitten und als Teil des ästhetisierten digitalen Alltags.

Co-Star wurde 2017 mit 5,95 Millionen US-Dollar Fundraising-Kapital gegründet, außerdem finanziert sich der Dienst mit In-App-Käufen. Nutzer können sich miteinander verbinden, wie in einem sozialen Netzwerk. Neben Software-Entwicklern beschäftigt Co-Star zwei Lyriker, eine Astrologin und eine Redakteurin, deren Textbrocken vom Algorithmus individuell collagiert werden. Die App benutzt Datum, Ort und Uhrzeit der Geburt, um eine Momentaufnahme des Himmels zu erstellen, wo-raus sich eine „Persönlichkeitsanalyse mit Charaktereigenschaften, Verhaltenstendenzen und emotionalen Neigungen“ ergibt, erklärt mir eine Sprecherin des Unternehmens.

Größtes Sorgenkind im neuen Astro-Universum ist aktuell das Phänomen „Mercury retrograde“. Die Google-Suchanfragen dazu erreichten im Sommer 2019 ihren höchsten Wert, seit 2013 stieg das Interesse stetig. Wissen muss man: Merkur ist im Olymp der Bote, der ewig junge Gott ist für den praktischen Verstand und den Handel zuständig, außerdem singt er, spielt die Leier, bringt Schlafenden ihre Träume. Der Planet Merkur steht der Sonne näher als die anderen. Aus der Perspektive der Erde wandert er von Westen nach Osten, nur gelegentlich scheint er sich rückwärts zu bewegen. Das ist eine Täuschung, die darauf beruht, dass er in dieser Zeit langsamer um die Sonne kreist als wir. Drei- bis viermal im Jahr tritt das Phänomen für wenige Wochen auf und sorgt dafür, so die Interpretation der Astrologen, dass es zu fatalen Fehlleistungen in der Kommunikation kommt. Gefährlicher geht’s kaum im digitalisierten Spätkapitalismus: E-Mails gehen an den falschen Empfänger, die Kreditkartenzahlung beim Onlineshopping funktioniert nicht, der Computer stürzt ab. Zum Zeitpunkt meiner Geburt stand Merkur allerdings im Sternzeichen Waage, die App sagt dazu: „Your life is a work of art.“

Merkur macht Ärger

„Dein Horoskop wird bestimmt vom Zeitpunkt, zu dem du deinen ersten Atemzug auf diesem Planeten getan hast“, sagt die Autorin Alexandra Kruse. „Ist das nicht schön?“ Sie ist Modejournalistin und As-trologie-Kolumnistin der Vogue. Ihr vertrauen die Sterngläubigen. Wir sind zum Telefonat um elf Uhr morgens verabredet: ein guter Zeitpunkt, weil der Mond dann im Steinbock steht, erklärt sie. Als ich sie in Zürich anrufe, wo sie wohnt, frage ich nach ihrer Erfahrung mit Co-Star. Sie, enthusiastisch: „Supergeil, I love it!“ Ist die Astrologie ein urmenschliches Bedürfnis, von der Steinzeit bis in unser digitales Zeitalter? „Die ersten Menschen haben Rhythmen und Zyklen am Himmel studiert, bis sie Muster und Zusammenhänge gesehen haben.“ Wenn man das einmal verstanden hat, sagt Kruse, „dann ist die ganze Welt magisch“. Nur müsse man sich stets selbst beobachten – wie einst beim Orakel von Delphi, das forderte: Erkenne dich selbst. Das war der Ursprung der Psychologie, hieß aber auch, dass die Geheimnisse der Seele schwer zu ergründen sind.

Menschen sind komplex, widersprüchlich und inkonsistent, sagt auch Banu Guler, Chefin der App Co-Star. Sie ist meist schwarz gekleidet, trägt das dunkle Haar kurz. Guler gründete das Unternehmen in Brooklyn, New York, nachdem sie in der Mode-Industrie gearbeitet, Psychologie studiert hatte und Fahrradkurierin gewesen war. Man muss zwangsläufig an Merkur denken, den Boten.

Die täglich neuen Benachrichtigungen versprechen mir, was heute immer ein gutes Versprechen ist: Unter Millionen bist du einzigartig, und dieses Horoskop ist nur für dich. Viele Nutzer haben Co-Star am Abend offen, so Buler. Dann reflektieren sie, was am Tag passiert ist, was hinter ihnen liegt: „Die Menschen wollen nicht mehr scrollen, auf der Jagd nach Likes. Sie suchen tiefer gehende Bestätigung. Self-Care.“

Vielleicht ist es ein bisschen zu einfach, die Rückkehr der Astrologie auf die Überforderung durch eine intensivierte Gegenwart zu schieben. Ich erreiche die Autorin und Kulturwissenschaftlerin Flavia Dzodan am niederländischen Sandberg Instituut, wo sie zu Feminismus, Postkolonialismus und Sterndeutung in der digitalen Gegenwart forscht. Unter dem Einfluss des rückläufigen Merkur klappt es erst nicht mit unserer Skype-Verbindung, sie bleibt schlecht. Als ich Dzodan frage, warum Astrologie ein solches Comeback erlebt, widerspricht sie. „Sie war nie weg. Bei people of color, Menschen im globalen Süden, in Lateinamerika, war sie immer wichtig. Das Internet hat die Sterne erst wieder in den Mainstream gebracht.“ Ein Bruch mit der westlichen Aufklärungstradition, vermute ich. „Es ist keine Alternative zur Aufklärung“, so Dzodan, „aber das Irrationale zu ignorieren, war lange Zeit der Fehler des dualistischen Denkens, der Trennung des Menschen in Geist und Körper, in Vernunft und Unvernunft. Ehrlich gesagt, Algorithmen als Technik zur Vorhersage sind so glaubwürdig wie Astrologie – nämlich überhaupt nicht.“

Ist die Sehnsucht nach den Sternen ein Anzeichen für die Flucht aus der hyperbeschleunigten digitalen Welt? Nein, denn, so erklärt Dzodan, Algorithmen und Astrologie sind eng miteinander verwandt. „Und das meine ich nicht als Metapher! Beide haben ihren Ursprung im Nahen Osten. Sie finden in der Figur des frühmittelalterlichen Mathematikers Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi zusammen, der auch Astrologe war. Im Mittelalter waren Wissenschaft und Hellseherei noch dasselbe.“ Sein Name wurde zu dem Wort „Algorithmus“ latinisiert, zu der Art von Gleichung, die anhand von festgelegten Schritten massenweise Daten verarbeiten kann und zum Begriff für die geheimnisvollen Operationen geworden ist, die im Internet Daten über uns auswerten. Sie sehen voraus, welche Suchergebnisse wir sehen wollen und welche Nachrichten in unsere Timelines passen. Das Alte steckt immer schon im Neuen, das Irrationale im Rationalen.

Vielleicht ist da eine Sehnsucht

Vielleicht gibt es eine Sehnsucht, die nicht in die Erzählung voranschreitender Aufklärung passen mag, in der alles Unbekannte und Unscharfe durch digitale Vernetzung allmählich verschwindet. Die unbegrenzte Verfügbarkeit von Texten, Bildern, Videos und menschlichen Kontakten führt nicht zur Utopie, sondern zu krass konkurrierenden Interpretationen der Wirklichkeit, die immer härter voneinander abweichende Milieus schaffen. Co-Star rät: „Don’t let anyone make you question your instincts.“ Während ich Sinnsprüche wie diesen lese, wird mir klar: Es ist schon angenehmer, davon auszugehen, dass unser Leben von Himmelskörpern bestimmt wird, als sich der Tatsache zu stellen, dass Algorithmen unsere Welt erheblich mitstrukturieren. Am Ende sind die endlosen Rechenoperationen im Internet, die Vorhersagen über mein Verhalten treffen sollen, für mich sowieso exakt genauso undurchdringlich wie die Wege der Sterne.

Algorithmen und Astrologie sind sich ähnlicher, als man denken würde. Im Merkur kommen sie zusammen, er ist Händler und Informant zugleich, muss sich nicht entscheiden zwischen Algorithmus und Astrologie. Die Sterne sollen uns einen Weg in ein gelungenes Leben weisen, das geheime Geschäft der Weissagung übernehmen derweil die Algorithmen.

Philipp Hindahl schreibt über Kunst und das Internet. Horoskopen steht er skeptisch gegenüber, ist aber von ihnen fasziniert

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