Von alten Göttern und neuen Heiden

Neuheidentum In den Ländern des früheren Ostblocks ist ein Anwachsen neuheidnischer Gruppen zu beobachten. Erstmals ist zu diesem Thema eine englischsprachige Anthologie erschienen

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Seit dem Ende des Kalten Krieges und dem damit einhergehenden Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks haben traditionelle und neue religiöse Gemeinschaften in Zentral- und Osteuropa wieder regen Zulauf. In all diesen Ländern lässt sich seit dem Beginn der 90er Jahre ein ähnliches Phänomen beobachten, dem in der westlichen Welt, auch von wissenschaftlicher Seite, bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Das Anwachsen sogenannter „neuheidnischer“ bzw. „indigener“ Glaubensgemeinschaften und Bewegungen. Der vorliegende Band liefert zu diesem wissenschaftlich vernachlässigten Thema eine Reihe hervorragender Essays.

Neben länderspezifischen Studien, in denen auf die Situation in Polen, Russland, Litauen, Lettland, Tschechien, Slowenien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Armenien und der Ukraine eingegangen wird, setzen sich einige Autoren auch mit den Wurzeln neuheidnischer Programmatik auseinander, die länderübergreifend in den nationalistischen und romantischen Strömungen des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Sie weisen auf strukturelle Ähnlichkeiten hin, welche die weltanschaulichen Grundlagen neuheidnischer und indigener Bewegungen in Zentral- und Osteuropa bilden. Trotz sprachlicher und kultureller Divergenzen lassen sich hierbei analoge historische Entwicklungen aufzeigen, die über die gemeinsame kommunistischer Vorherrschaft hinausgehen.

Der Zusammenbruch des kommunistischen Staats- und Gesellschaftssystems hat die Staaten Zentral- und Osteuropas vor enorme politische und ökonomische Herausforderungen gestellt. Das durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus offenbar gewordene ideologische Vakuum in jenen Ländern füllen nicht nur die dort traditionell angesiedelten Glaubensgemeinschaften, sondern auch neue religiöse Bewegungen.

Neuheidnische und indigene Glaubensgemeinschaften Zentral- und Osteuropas ähneln sich länderübergreifend durch ihre Hinwendung zur tribalen vorchristlichen Vergangenheit ihrer Länder und dem Bedürfnis, kollektive Identitäten auf ethno-nationaler Basis zu rekonstruieren. Mit dem Anspruch, den Glauben der ethnischen Vorfahren und damit die eigentliche National-Religion der jeweiligen Länder zu repräsentieren, stellen einige jener Glaubensgemeinschaften offen das traditionelle, identitätsstiftende Machtmonopol der christlichen Kirchen in einigen dieser Länder in Frage. So bildet beispielsweise der Antikatholizismus und die allgemeine Ablehnung des Christentums als „fremde“ und „aufgezwungene“ Religion ein Schlüsselelement für die Identität neuheidnischer Gruppen im kulturell nach wie vor stark katholisch geprägten Polen.

Trotz vieler Gemeinsamkeiten kann die enorme innere Pluralität an neuheidnischen und indigenen Glaubensvorstellungen auch innerhalb der einzelnen Länder kaum verschwiegen werden. Schon die Namensgebung des Phänomens fällt schwer, so ist denn auch der lange Buchtitel kaum mehr als der Versuch jene Vielzahl an Glaubensvorstellungen einigermaßen zu kategorisieren.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Anthologie einen umfassenden Einblick in ein faszinierendes Phänomen gewährt und Lesern der westlichen Welt, die den Sprachen zentral- und Osteuropas nicht mächtig sind, einen differenziertes Bild neuheidnischer und indigener Glaubensgemeinschaften ermöglicht. Jedem Leser, der sich für neuheidnische Bewegungen und die Religiosität in Zentral- und Osteuropa interessiert aus einer interdisziplinären Perspektive interessiert, dem sei dieses spannende Buch zur Lektüre guten Gewissens empfohlen.

Modern Pagan and Native Faith Movements in Central and Eastern Europe. Kaarina Aitamurto, Scott Simpson (Hg.). Durham 2013.

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Geschrieben von

Philipp Schaab

Studierte Religionswissenschaft, Geschichte und etwas Geographie in Heidelberg und Krakau. Schreibt über Religionen, Geschichte u. a. schöne Dinge.

Philipp Schaab

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